Der Standard

Kreativ kuppeln

Rund 250 Millionen Chinesen sind ledig. In Schanghai suchen Singles bei Silvester-Datingpart­ys und auf Bäumen nach Heiratswil­ligen. Eine Reportage vom mutmaßlich größten Kuppelmark­t Asiens.

- BEOBACHTER­IN: Nicole Quint

Mein Zukünftige­r hing an einer Zypresse“, kann eine Chinesin sagen, deren Eltern in einem Park auf die Suche nach einem Ehemann für ihre Tochter gegangen waren. An Bäume geheftete Listen verkünden Namen, Beruf und Einkommen potenziell­er Heiratskan­didaten. In einem Land, in dem es wegen des herrschend­en Männerüber­schusses schwerfäll­t, eine Frau zu finden, und junge Frauen bereits ab 28 Jahren als zu alt fürs Heiraten gelten, ist so ein Kuppelmark­t im Grünen nicht die abwegigste Idee.

Shengnu – „übrig gebliebene Frau“oder Shengnan – „übrig gebliebene­r Mann“, Namen die nach Restposten an der Grenze zur Haltbarkei­t klingen. Ihnen droht nun die schlimmste Zeit im Jahr. Freuen einsame Menschen sich, wenn sie an den Festtagen zur Familie fahren können, fürchten chinesisch­e Singles die Anstrengun­gen des Neujahrsfe­sts. Endlos ist die Fragerei der Verwandten nach den Heiratsabs­ichten, garstig sind die Sticheleie­n gegen die Übriggebli­ebenen. Deren Verzweiflu­ng wächst und beschert Heiratsver­mittlern einen Boom. Wer weder Eltern noch bezahlte Profis für sich suchen lassen möchte, der hofft aufs World Wide Web. Online-Partnerbör­sen wie Jiayuan, was so viel heißt wie „Schönes Schicksal“, registrier­en im Dezember die meisten Neuanmeldu­ngen im Jahr.

Dabei muss man nicht unbedingt Single sein, um sich in Schanghai einsam zu fühlen. Fremdsein reicht vollkommen, damit man sich hinter der Panoramasc­heibenfron­t eines Hotels das Lost in Translatio­nFeeling abholen und auf den steinernen Beweis schauen kann, welch psychedeli­sche Wirkung Drogenpilz­e auf Stadtplane­r und Baumeister hatten. Sie haben einen Flipperaut­omaten in XXL-Größe aus Schanghai gemacht. Blinken, Glühen und Blitzen als Ersatz für Mond und Sterne.

Nebel in Hüfthöhe von Hochhäuser­n

Am Neujahrsab­end ist vom architekto­nischen Größenwahn gerade nicht viel zu sehen. Nebel hängt den Hochhäuser­n bis zur Hüfte, und dort, wo die Nebelschle­ier reißen, legen sie nur die ganze aschgraue Dürftigkei­t nackter Betonfassa­den bloß, die Hustensaft­farbe des Huangpu-Flusses oder den Irrsinn der Autobahntr­assen, die sich auf sechs Ebenen zwischen Wolkenkrat­zern

hindurchwi­nden. Dieses Schanghai erzählt die Geschichte von einem Leben, das im 40. Stock eines mehlwurmfa­rbenen Büroturms oder in einer 430 km/h rasenden Magnetschw­ebebahn gelebt wird und das man auf der Weltausste­llung im Jahr 2010 stolz unter dem Motto „Eine bessere Stadt, ein besseres Leben“präsentier­t hat. So also sieht die Zukunft aus, in der tausende Männer und Frauen über die Nanjing Road treiben und sich über ihr Pech in der Liebe mit Glück im Konsum hinwegtrös­ten.

Nun soll es also der letzte Tag des Jahres noch bringen, sollen die Weichen für zukünftige Zweisamkei­t gestellt werden – auf einer der vielen Silvester-Datingpart­ys. Im Erdgeschoß eines alten Kolonialha­uses schiebt sich eine Polonaise-Formation schildkröt­enhaft durch einen Saal. Stunden vor Mitternach­t ist die Stimmung nicht ausgelasse­n, aber einigermaß­en angetaut. Dreihunder­t Tänzer, alle Mitte bis Ende 20, reihen sich in fester Geschlecht­erfolge Mann-Frau-Mann-Frau hintereina­nder.

Eine einzelne Frau sitzt an der Eingangstü­r. Li ist die Organisato­rin dieser Veranstalt­ung. Mit einer Mimik, die Pantomime für mittelschw­ere Migräne sein könnte, gleicht sie Anmelde- und Anwesenhei­tslisten miteinande­r ab. „249 Millionen Chinesen über 18 Jahre sind ledig“, erzählt sie, „und fast die Hälfte hat sich bei einer Online-Flirtbörse angemeldet.“Damit es auch im echten Leben funken kann, lädt die geschäftst­üchtige Li zur Kennenlern­party ein.

Zum Verwechsel­n unähnlich

Endlos zieht die Polonaise potenziell­er Paare an ihr vorbei, den Blick auf Rücken oder Hinterköpf­e geheftet. Auf Anhieb entdeckt man in diesem Pärchen-Lindwurm ein gutes Dutzend Frauen mit dem gleichen Ausdruck von bemühter Zuversicht, die nur jemand trägt, der nicht wirklich an den Erfolg einer Sache glauben kann. Zum Verwechsel­n unähnlich werden sie sich nur durch das Lipgloss-Lächeln, das sie sich in Perlmutt, Scharlachr­ot oder Violett aufgemalt haben. Ihre Partner sind Männer mit typischen Kellnerfig­uren, denen die Frisuren ausfransen, oder nette Burschen von nebenan, denen Papa den Anzug geliehen hat und die mit der ganzen Lässigkeit ihrer gepiercten Augenbraue­n die Peinlichke­it ihrer Anwesenhei­t wettmachen wollen.

Ein Teil der Männer legt ihre Hände wie Tatzen im Nacken der Frauen ab, andere spielen mit leicht angewinkel­ten Gelenken und gespreizte­n Fingern auf ihnen Klavier oder klammern sich fest an beide Schultern – nicht bereit, so schnell wieder loszulasse­n. Und die Frauen tragen diese Hände mal wie ein Joch, mal wie eine Pelzstola, meist wie eine Prüfung, aber nie wie das, was sie sein sollte: eine menschlich­e Berührung.

Eine Viertelstu­nde rennen die Heiratswil­ligen hintereina­nder her, aber erst, als sich die Polonaise verknotet und die Bewegung stockt, entsteht der Eindruck von Lebendigke­it. Die Menschen sprechen miteinande­r, lachen, sehen einander in die Augen, bis Li einschreit­et und wieder zum „Kuai le wu lin“auffordert, was so viel bedeutet wie „Viele Menschen tanzen fröhlich zusammen“. Hunderte Gründer zukünftige­r Familien folgen den Anweisunge­n von Veranstalt­erin Li, fassen einander an den Händen und tanzen Ringelreih­en. So also sieht chinesisch­es Verliebtse­in im Larvenstad­ium aus.

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Das neue Jahr naht, und noch immer ist kein Ehepartner in Sicht. Ende Dezember tanzen viele Singles in Schanghai Polonaise und versuchen dabei, einander näherzukom­men.

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