Der Standard

Was die Lücken im Gedächtnis erzählen

Erinnern als öffentlich­er Auftrag, Vergessen als Persönlich­keitsrecht: Zwischen diesen Polen hinterfrag­t eine Innsbrucke­r Schau die Rolle des Museums.

- Ivona Jelčić

Wenn das Textverarb­eitungspro­gramm ein unschuldig in die Tastatur geklopftes „Ibiza“Ende 2019 ungefragt mit dem Wörtchen „Skandal“vervollstä­ndigt, darf man wieder einmal darüber nachdenken, was sich unsere am digitalen Tropf hängenden technische­n Gerätschaf­ten so alles merken – und warum.

Anderersei­ts: Es ist die Zeit der Jahresrück­blicke, da gebührt Ibiza fraglos einige Beachtung. Beliebt sind dieser Tage aber auch Resümees der 2010er-Jahre. In der Dekade ist einiges passiert – unter anderem hat der Europäisch­e Gerichtsho­f das „Recht auf Vergessen“im Internet bestätigt.

Aber nicht nur in digitaler Hinsicht ist das Verhältnis zwischen Erinnern und Vergessen eine komplexe Angelegenh­eit. Wenn sich ein Museum mit dieser beschäftig­t, scheint die Denkrichtu­ng zunächst klar zu sein: Schließlic­h gelten Museen als Gedächtnis­institutio­nen, Bewahren und Erinnern sind gleichsam ihr öffentlich­er Auftrag. Die Idee, identitäts­stiftende Objekte für ein Land oder eine Region zu sammeln, entstand wohlgemerk­t aus einem im 19. Jahrhunder­t erstarkten Nationalbe­wusstsein heraus. Allein daraus ergibt sich reichlich Stoff für kritische Hinterfrag­ungen. Im Innsbrucke­r Ferdinande­um spannt man den Bogen mit Vergessen. Fragmente der Erinnerung weiter bis in die Gefilde privater Gedächtnis­leistungen.

Das Gesamtbild ist vielschich­tig und ein gutes Beispiel dafür, wie sich aus großteils eigenen Beständen Erzählunge­n entwickeln lassen, die an aktuelle gesellscha­ftliche Fragen andocken. Als Leiter der Museumsbib­liothek setzt Kurator Roland Sila auch auf die Denkräume, die literarisc­he Texte eröffnen können.

Auf Plakate gedruckt, begleiten sie durch den aus rund 8000 leeren Archivscha­chten „gebauten“und mit einigen immersiven Installati­onen ausgestatt­eten Ausstellun­gsparcours, in dem man archäologi­schen Artefakten genauso wie „vergessene­n“Objekten wie Handschuhs­preizern aus den 50er-Jahren begegnet.

Denkanstöß­e

Sorgfältig ausgewählt­e künstleris­che Positionen geben die einprägsam­sten Denkanstöß­e: Christian Boltanskis La Réserve des Suisses Morts gehört dazu. Der französisc­he Künstler hat sich in seinen Arbeiten wiederholt mit der Erinnerung an den Holocaust auseinande­rgesetzt. Die Porträts auf seinen übereinand­ergestapel­ten leeren Blechschac­hteln aber hat er aus Todesanzei­gen in Zeitungen ausgeschni­tten. Zusammenhä­nge bleiben ausgespart, aber „Es gibt immer eine Geschichte, auch wenn wir sie nicht kennen“, so Boltanski.

Dass Arno Gisingers Fotografie aus Oradour-sur-Glane auch lokale Bezüge herstellt, bleibt leider ebenfalls eine verschütte­te Informatio­n: Die SS verübte in der französisc­hen Ortschaft 1944 ein Massaker, an das nach Kriegsende die französisc­hen Besatzer in Tirol erinnerten, indem sie ein Lager, in dem NS-Verbrecher interniert wurden, „Oradour“nannten. Tiroler Landesmuse­um Ferdinande­um: Vergessen. Fragmente der Erinnerung; bis 8. März 2020

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„Oradour“, ein Foto von Arno Gisinger, 1994.

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