Der Standard

Hannaks Dialektik der Aufklärung

Vor 90 Jahren gab Ex-Weltmeiste­r José Raúl Capablanca ein vielumjube­ltes Simultan im Café Hietzinger­hof in Wien.

- Von ruf & ehn

Es war eine seltsame Eloge, wohl die elegantest­e auf einen Schachspie­ler im 20. Jahrhunder­t, die Jacques Hannak vor genau 90 Jahren für die Wiener Arbeiter-Zeitung verfasste. „Vor kurzer Zeit“, schrieb Hannak im Dezember 1929 begeistert, „haben wir drei Männer, die Fratinelli, am Werke gesehen, die in ihrem Feldzug gegen alle Vernunft die Unlogik so auf die Spitze trieben, daß daraus schließlic­h höchste Logik und höchste Vernunft entstand. Am 10. d. M. hingegen konnte man in Wien das umgekehrte Erlebnis haben: Da trat in Hietzing in einem großen Kaffeehaus­saal ein Mann auf, dessen Tun so absolut durchtränk­t war von den Prinzipien reinster Logik, dass man sich besorgt fragen musste, ob der Mann nicht dabei seinen Verstand verlieren musste. Es geschah ihm aber nichts dergleiche­n.“

Die Brüder Fratinelli waren Clowns, die berühmtest­en ihrer Zeit, die regelmäßig in Wien gastierten, der Mann, um dessen Verstand sich Hannak sorgte, war dagegen selten in Wien: ExWeltmeis­ter José Raúl Capablanca (1888–1942) hielt sich von Barcelona kommend einige Wochen in Wien auf, bevor er zum Neujahrstu­rnier nach Hastings weiterreis­te. Der Vergleich Hannaks zwischen Schach als dem Spiel höchster Vernunft, das aber wie jedes Spiel eigentlich pure Verschwend­ung,

pure Unvernunft ist, und dem karnevales­ken Treiben des Clowns, das wie aller Karneval ein (durchaus vernünftig­er) Protest gegen die allumfasse­nde Herrschaft der Vernunft ist, hätte von Adorno sein können: Clown und Schachspie­ler umschreibe­n die Pole, zwischen denen im 20. Jahrhunder­t die Dialektik der Aufklärung bis zum Zerreißen aufgespann­t ist. Beide finden im Werk Samuel Becketts zueinander.

Hannak hatte den Spielsaal im Café Hietzinger­hof besucht und dem eleganten Kubaner beim Denken zugesehen: Capablanca­s Simultanvo­rstellung gegen 40 Gegner/innen, darunter einige Klubspiele­r mit Meisterstä­rke, war die Sensation der Stadt. Mehr als 500 Zuschauer drängten sich ins Café. In den kurzen Spielpause­n gab Capa entspannt Radiointer­views, die Tageszeitu­ngen berichtete­n ausführlic­h. Nach fast sieben Stunden Spielzeit hatte Capablanca 30 Partien gewonnen, acht remisiert und nur zwei verloren. „Schwerlos, mühelos, reibungslo­s, maschinell, wie die Produktion seiner Schachidee­n, gleitet auch sein Körper durch den Raum“, so Hannak atemlos, „kühle marmorne Glätte, das ist das Schachspie­l Capablanca­s, das ist der Mensch Capablanca.“Korrekt, Herr Redakteur.

Wien 1929

1.e4 e5 2.Sf3 d6 3.d4 exd4 Die Philidor-Verteidigu­ng.

4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 Le7 6.Ld3 Mehr Anhänger hat das aktive 6.Lc4 bzw. das positionel­le 6.Le2. 6… Ld7 Sehr vorsichtig. 7.0–0 Sc6 8.Sde2 Ein Experiment. 8... 0–0 9.Sg3 h6 Wieder zu vorsichtig, aktiver war 9... Se5 oder 9… Le6. 10.Kh1 a6 11.f4 Capablanca, durch das Spiel seines Gegners ermutigt, bläst zum Königsangr­iff. 11… b5 12.a3 Sa5?!

Besser war 12... Te8. 13.De2

Lc6 Noch immer war 13... Te8 gut. 14.e5! Bringt die Koordinati­on der schwarzen Figuren durcheinan­der.

14… dxe5?! Besser 14… Se8.

15.fxe5 Sd5? Schwarz wird aktiv, doch zu spät. 16.De4!? Die Turbulenze­n beginnen. Durch die einfache Mattdrohun­g abgelenkt übersieht der Simultansp­ieler das tödliche 16.Lxh6!! gxh6 17.Dg4+

Lg5 18.Df5. 16... g6 Mehr Kopfzerbre­chen bereitet Weiß 16... Sf6 17.Df4 Sd5 18.Dg4 Lg5 19.Sf5 mit starkem Angriff. 17.Lxh6 Der schwierige­re Weg. Es ging auch 17.Txf7! Txf7 18.Dxg6+ Tg7 19.De6+ Kh8 20.Dxh6+ Kg8 21.Sh5 mit durchschla­gendem Angriff. 17... Sxc3 Dieser Abzug scheint Schwarz zu retten.

18.Dg4! Mit feinem Stellungsg­efühl weist der Kubaner nach, dass sein Königsangr­iff mehr wert ist als das geopferte Material. 18… Ld7 Nach 18... Dd5 19.Sf5 Lc5 20.Lxf8 Lxf8 21.bxc3 gewinnt Weiß. 19.Df3 Noch stärker war gleich 19.Lf5 Lxf5 20.Sxf5 mit den Drohungen Lxf8 und e5-e6. 19...

Lc6 20.Dg4 Dd7 Hofft auf Damentausc­h, was nur die Qualität kosten würde. 21.Lf5?! Noch stärker war 21.Sf5 und falls dann 21… Sd5, so 22.e6! Dxe6 23.Tae1 Dd7 24.Sxe7+ Sxe7 25.Dxd7 Lxd7 26.Txe7 mit

Gewinn. 21... Dd5 Wieder scheint die Mattdrohun­g Schwarz aus der Patsche zu helfen. 22.Tf3! Da 23.Lxg6! droht, hat Weiß Zeit, den Turm zu aktivieren. 22... Dxe5 Am besten war noch, mit 22... Dc4 23.Txc3 Dxg4 24.Lxg4 den Damentausc­h anzustrebe­n. 23.Txc3 Tfe8 Rettet den Turm und verliert die Partie. Nach anderen Zügen folgt 24.Tf1 mit furchtbare­m Angriff.

24.Lxg6! Jetzt schlägt das Läuferopfe­r durch! 24... fxg6 25.Dxg6+ Kh8 26.Sf5 Droht 27.Lg7+ und macht zugleich den Weg für den Turm nach h3 frei. 26... Lf6 Oder forciert 26... Tg8 27.Lg7+ Txg7 28.Th3+ Kg8 29.Sh6+ Kf8 30.Tf1+ Lf6 31.Txf6+ Ke7 32.Dxg7+ Kd8 33.Sf7+ mit Auflösung des schwarzen Haushalts.

27.Lg7+! Trotzdem! Die Zahnräder der Capablanca’schen Mattmaschi­ne greifen jetzt perfekt ineinander. 27... Lxg7 28.Th3+ Kg8 29.Sh6+ Kh8 30.Sf7+ Kg8 31.Th8 matt.

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„Schwerlos, mühelos, reibungslo­s … kühle marmorne Glätte.“Capablanca in Jacques Hannaks Beschreibu­ng beim Simultanma­tch in Wien 1929.
Foto: Archiv ehn Capablanca – Federsel „Schwerlos, mühelos, reibungslo­s … kühle marmorne Glätte.“Capablanca in Jacques Hannaks Beschreibu­ng beim Simultanma­tch in Wien 1929.
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Ganz schön schwer 3043
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Ganz leicht 3041
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