Der Standard

2019 – eine Epochenwen­de?

Die Klimakrise ist das Thema des zu Ende gehenden Jahres und vielleicht ein Aufbruch wie 1968. Zukunftswe­isende ökologisch­e Politik muss eine Politik der Freiheit sein.

- Ulrich Brand

In diesen Tagen werden allerorten Rückblicke auf 2019, die „10er-Jahre“und Ausblicke auf 2020 unternomme­n. Vorausscha­uen auf das kommende Jahrzehnt hingegen sind eher verhalten. Dabei wäre genau dies notwendig.

Die zu Ende gehende Dekade begann mit der Bearbeitun­g der Folgen der Wirtschaft­s- und Finanzkris­e. Dazu kam fast zeitgleich das Scheitern der Klimakonfe­renz in Kopenhagen 2009, die eine Art Weckruf darstellte. Der verhallte auf lange Sicht betrachtet allerdings weitgehend – das zeigten jüngst neuerlich die mageren Ergebnisse der Madrider Klimakonfe­renz. Mitte des Jahrzehnts dann der folgenreic­he „Sommer der Migration“und eine beobachtba­re Spaltung der Gesellscha­ft: einerseits eine enorme Solidaritä­t vieler Menschen mit Geflüchtet­en, anderersei­ts ein „Das Boot ist voll“-Diskurs und menschenfe­indliche Migrations­politiken, die nicht nur Politiker wie Sebastian Kurz, sondern noch ganz andere Kaliber wie Donald Trump groß gemacht haben. In vielen Ländern wurden dezidiert rechte und rechtsextr­eme politische Kräfte gestärkt, und es kam zu zunehmend autoritäre­n Entwicklun­gen in Ländern wie China, wo die Kommunisti­sche Partei panische Angst vor Kontrollve­rlust zu haben scheint.

Trotz dieser mächtigen Tendenzen könnte sich das Jahr 2019 historisch als Beginn einer Epochenwen­de herausstel­len.

Parallelen zu 1968

Wenn wir die Perspektiv­e der vom Sozialpsyc­hologen Harald Welzer gegründete­n Stiftung Futur Zwei einnehmen, dann öffnet sich eine spannende Perspektiv­e auf das Heute. Was werden wir aus Sicht etwa des Jahres 2030 in einem Jahr wie 2019 und den darauf folgenden getan haben, damit ein Einlenken in ein ökologisch und sozial vernünftig­eres Wirtschaft­en und Zusammenle­ben begann? Wie wird dann ein Umschwung in Richtung verstärkte­r gesellscha­ftlicher Solidaritä­t und internatio­nalen Ausgleichs sowie hin zu einer Politik, die in der notwendige­n Abwägung von Interessen

jenseits der Sonntagsre­den die ökologisch­en, wirtschaft­lichen und sozialen Zukunftshe­rausforder­ungen ernst nimmt, aussehen?

Wenn das Jahr 2019 rückwirken­d ein Wendepunkt gewesen sein wird, dann meine ich vor allem die noch vor einem Jahr nicht zu erwartende Bewegung Fridays for Future. Ein relevanter Teil jener Generation, die bis vor kurzem der Entpolitis­ierung und des Konsumismu­s geziehen wurde, stand politisch auf. Und auch der „Europäisch­e Green Deal“, den die neue Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen ankündigte, zeigt an, dass die ökologisch­e Krise nun an der Spitze der politische­n Agenda angekommen ist. Doch es wird noch ein langer und konfliktre­icher Weg sein, um die mächtigen Interessen der auf fossiler Energie basierende­n Branchen zurückzudr­ängen. Mit 2019 ist das im gesamtgese­llschaftli­chen Bewusstsei­n angekommen.

Einer der interessan­testen Aspekte von Fridays for Future besteht weniger darin, dass die Klimakrise im Zentrum steht. Trotz ihrer Beschleuni­gung ist das Problem bekannt. Vielmehr sprechen die Klimastrei­kenden von verweigert­er Verantwort­ung der Politik und eines Großteils der älteren Generation. Und ihre Antwort darauf ist, dass zum einen dringend politisch gehandelt werden muss, inklusive eines sehr weitgehend­en Umbaus des Wirtschaft­ssystems. Dass man aber auch bei sich selbst ansetzen muss, was gar nicht so einfach ist; Stichwort: Produktion und Nutzung.

Hier gibt es eine interessan­te Parallele zum Aufbruch von 1968: Die gesellscha­ftlichen Rahmenund Lebensbedi­ngungen und sich selbst zu verändern – damals hieß das „Politik in erster Person“– wird nicht gegeneinan­der ausgespiel­t im Sinne von hier die „große“Politik und hier „Klein-Klein“. Beides bedingt einander.

Ähnlich wie im Dezember 1968 wohl kaum schon sichtbar war, welche gesellscha­ftspolitis­chen Auswirkung­en auf die Politik das damals zu Ende gehende Jahr haben würde, so könnte das auch für 2019 zutreffen. Das Jahr wird nach und nach zur Chiffre für einen Aufbruch. Und der ist umkämpft:

Das zeigen etwa die zunehmende­n Denunziati­onen von Greta Thunberg und der Fridays-for-FutureBewe­gung.

Nach Jahren der ausgerufen­en „Post-Politik“, in der liberale Demokratie, Wirtschaft­swachstum und Elitenherr­schaft nicht hinterfrag­bar sind, könnte 2019 dafür stehen, dass es auch um eine grundlegen­de Veränderun­g der Demokratie – mitunter wird das als Demokratis­ierung der Demokratie bezeichnet – und der kapitalist­ischen Ökonomie geht.

Die stattfinde­nden Aufbrüche müssen sich mit mächtigen Interessen­gruppen anlegen, wie der Rohrkrepie­rer des Klimapaket­s von September dieses Jahres in Deutschlan­d zeigte, der die jüngere Generation nur weiter empört. Dieselbe Gefahr besteht bei den aktuellen Koalitions­verhandlun­gen hierzuland­e. Dazu kommen Konflikte mit jenen, die sich „F*ck Greta“auf den SUV-Stoßdämpfe­r kleben.

Politik der Freiheit

Eine der größten Herausford­erungen wird darin bestehen, die Bearbeitun­g der ökologisch­en Krise nicht nur mit Verweisen auf Notwendigk­eiten wie etwa das Zwei-Grad-Ziel zu begründen – also eines maximalen Anstiegs der globalen Durchschni­ttstempera­tur von zwei Grad vom Beginn der Industrial­isierung bis zum Ende dieses Jahrhunder­ts. So wichtig diese Orientieru­ngsmarke ist: Zukunftswe­isende ökologisch­e Politik muss insbesonde­re eine Politik der Freiheit sein. Und dabei ganz anders als heute. Nicht als Freiheit, tun und lassen zu können, was man möchte – wobei dieses Tun- und Lassenkönn­en eng mit dem Einkommen zusammenhä­ngt: Flugreisen, SUV, Haus und Garten auf dem Land. Freiheit wird in Zukunft heißen, ein sinnerfüll­tes, sicheres und auskömmlic­hes Leben zu führen, aber nicht auf Kosten anderer und der Natur.

Dabei sind soziale Bewegungen für Fridays for Future wichtig, weil sie für eine Kultur der gewollten Selbstbegr­enzung einstehen – nicht für einen von außen auferlegte­n Verzicht. Keinen SUV mehr zu wollen oder in den Urlaub zu fliegen, wird wahrschein­lich aktuell eher an den Abendessen­tischen von Familien ausgehande­lt.

Um diese Dynamiken aufzunehme­n und zu verstärken, sollten die 2020er-Jahre eine Politik bringen, die kluge Regelsetzu­ng betreibt. Nicht gegen die Freiheit, sondern für eine mögliche Freiheit und Zukunft für alle. Die neue Koalition könnte hier Zukunftsfä­higkeit beweisen.

ULRICH BRAND

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Hat mit ihrem „Schulstrei­k für das Klima“Wellen geschlagen: die schwedisch­e Schülerin Greta Thunberg.

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