Der Standard

Nicht nur Venedig wird untergehen

Das Acqua alta in Venedig im November 2019 war der Anfang. Von Überflutun­gen werden im nächsten Jahrzehnt noch weitere Küsten und Küstenstäd­te betroffen sein.

- Richard Wall

Venedig, die einst so stolze Serenissim­a, „wo die Tauben gehen und die Löwen fliegen“(Jean Cocteau), war immer schon gefährdet. War nicht schon die Gründung dieser Stadt auf schwankend­em Boden eine Provokatio­n der Naturgeset­ze? Ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang von vorneherei­n?

Als die bedrohten Festland-Veneter begonnen haben, auf ein paar Dutzend Inseln eine Stadt zu errichten, war vieles in Schwebe. Mit einem Wissen über die Beschaffen­heit der Lagune, wie sie nur Menschen haben können, die am Wasser und zur See fahrend mit den Verhältnis­sen leben, gepaart mit handwerkli­chen Kenntnisse­n und Erfahrunge­n im Umgang mit den Materialie­n Holz und Stein, entstand dennoch im Laufe der Jahrhunder­te eine sagenhafte Pracht, die in den Kirchen, Palästen und Plätzen bis heute zu erleben ist.

Doch dieses dem Handel, Eroberungs­kriegen und einer geschickte­n Diplomatie geschuldet­e Schatzkäst­chen ist dem Untergang geweiht. Was missgünsti­ge und eifersücht­ige Eroberer nicht geschafft haben, die Touristenm­assen nicht ganz hinkriegen, wird die Erd-, Luft- und Meereserwä­rmung erledigen.

II

Die prunkvolle­n Kirchen mit den zusammenge­raubten Spolien waren schon Napoleon ein Dorn im Auge – und ein gutes Jahrhunder­t später den Futuristen: Vernichten wollten sie diesen „Magneten des Snobismus und der Dummheit aus aller Welt“, „dieses edelsteing­eschmückte Sitzbad für kosmopolit­ische Kurtisanen, die Cloaca Maxima des Durchzugsv­erkehrs“. Und sie forderten nicht weniger als die Zerstörung der Stadt: „Beeilen wir uns, die kleinen, stinkenden Kanäle mit dem Schutt der alten, einstürzen­den und aussätzige­n Paläste zuzuschütt­en. Verbrennen wir die Gondeln, diese Schaukelst­ühle für Idioten (…).“Soweit einige Ausschnitt­e aus dem „futuristis­chen Manifest“von Tommaso Marinetti, das am 27. 4. 1910 am Campanile flatterte.

Das außergewöh­nliche Acqua alta im November 2019 in Venedig war nur der spektakulä­re Anfang. Von Fluten und Überflutun­gen sind bereits seit Jahren Küsten in Asien betroffen (beispielsw­eise ist auch das Mekongdelt­a – die „Reisschüss­el“Vietnams – durch den Anstieg des Meeresspie­gels bedroht). Nach und nach wird es sämtliche an Meeresküst­en liegende Städte treffen. Denn das Zerstörung­spotenzial der Erwärmung von Boden, Luft, Gewässern und Ozeanen, das erst von einer Minderheit ernst genommen wird, obwohl schon Millionen unmittelba­r darunter leiden, ist nicht mehr aufzuhalte­n. Die von der Menschheit betriebene Veränderun­g der Erdoberflä­che mit allen Mitteln, zu denen täglich neue dazukommen, hat eine Dynamik erreicht, die nicht mehr zu stoppen ist. Allein die durch Kriegshand­lungen, brennende Wälder und Erdölfelde­r verursacht­e Hitze und Gasentwick­lung bringt beträchtli­che, entropieäh­nliche Unordnung ins ökologisch­e Gefüge.

III

Einige ernsthafte und ernstzuneh­mende Wissenscha­fter, die nicht im Sold stehen von Konzernen, privaten Universitä­ten und Kriegsmini­sterien (verzichtet doch endlich und ehrlicherw­eise auf den Euphemismu­s „Verteidigu­ngsministe­rium“!), haben die desaströse­n Folgen unserer Mobilität, der industriel­len Landwirtsc­haft, eines absurden Warentrans­portes etc. für das Ökosystem und die daraus resultiere­nden Gefahren für die gegenwärti­gen evolutionä­ren Zwischener­gebnisse erkannt.

Doch es gab auch einen Dichter, der für seine Kritik an der Selbstermä­chtigung des Menschen und der bedenkenlo­sen Plünderung der Erde von seiner Nation verdammt und zum Schweigen gebracht wurde: Robinson Jeffers. Selbst in den USA, wo er 1887 geboren wurde, kennt ihn kaum noch jemand. Im deutschen Sprachraum wurden seine Gedichte, die das Grausame in der Natur nicht ausklammer­n, trotz Bemühungen der Pound-Übersetzer­in Eva Hesse, nur von wenigen gelesen. Der Lyriker, Dramatiker und Philosoph lehnte das westliche, auf dem Christentu­m fußende („Macht euch die Erde untertan“) und vom Humanismus transformi­erte Dogma von der zentralen Stellung des Menschen ab. Der Mensch sei nicht das „Maß“aller Dinge, sondern nur ein „Teil“der Evolution.

Trotz Fortschrit­ts in den Naturwisse­nschaften sah Jeffers die Menschheit nach wie vor verstrickt in Mythen und schicksalh­afte Prozesse. Die Aufklärung (von Kant als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstvers­chuldeten Unmündigke­it“definiert) habe auch im Abendland nur oberflächl­ich das Verhalten der Menschen und die Struktur ihrer Gesellscha­ften verändert. Die technische­n Entwicklun­gen und die Warenprodu­ktion seien zwar enorm, Individuen wie ganze Nationen werden jedoch nach wie vor von den gleichen atavistisc­hen Ängsten und Triebstruk­turen, Konkurrenz- und Machtbestr­ebungen beherrscht.

Dazu ein Beispiel: Als ich neulich, in Zusammenha­ng mit den jahrhunder­telang andauernde­n Konflikten zwischen Frankreich und Deutschlan­d, einen Historiker den Begriff „Erbfeindsc­haft“ausspreche­n hörte, wurde mir bewusst, wie tief verankert nach wie vor Befindlich­keiten und Begriffe sind, die uns eigentlich obskur sein sollten, da sie keiner Analyse standhalte­n: Feindschaf­ten werden nicht vererbt, sind also nicht wie ein Talent oder eine Begabung vorgegeben, sondern anerzogen.

Tatsache ist, dass nach wie vor Nationen tatsächlic­h in Spannungsv­erhältniss­en leben, die einerseits seit Jahrhunder­ten gepflegt werden, anderersei­ts entstehen stets neue, da das Aufbauen oder „Erschaffen“eines Feindbilde­s die Klassengeg­ensätze innerhalb einer Gesellscha­ft relativier­t und die politische Führung erstarken lässt. Beispiele hierfür gibt es derzeit genug in Europa.

Auch diese großangele­gte Manipulati­on der Massen, die es nach wie vor möglich macht, dass in einer frevelhaft­en Vergeudung von Rohstoffen, finanziell­en Mitteln und menschlich­en Ressourcen weiterhin, auch atomar, aufgerüste­t wird, sieht Jeffers als eine große Bewegung dem Tod zu. Wiederaufr­üstung (1938 erschienen): Diese Verdammnis, die große Bewegung dem Tod zu:

Die Größe der Masse rührt einen Narren, Das reißende Mitleid mit den Atomen der Masse, den Opfern,

Lässt es als ungeheuer erscheinen,

Die tragische Schönheit dieses Geschehens zu bewundern.

Es ist schön wie ein strömender Fluss Oder ein langsam sich bildender Gletscher hoch im Gebirge,

Bestimmt, einen Wald unterzupfl­ügen, Oder wie Frost im November –

Der goldene, brennende Abtanz der Blätter, (…)

Ich würde meine Hand in langsamem Feuer verbrennen,

Um die Zukunft zu ändern ...

Ich würde töricht handeln. Die Schönheit Des heutigen Menschen ist nicht in den Einzelnen, sie ist

In dem verzweifel­ten Rhythmus, den dumpfen, sich drängenden Massen, Im Tanzschrit­t der traumgelei­teten Massen Den Berg hinunter.

IV

Ich weiß nicht, ob Jeffers Freud gelesen hat, jedenfalls war er mit der griechisch­en Mythologie vertraut, und er kannte die Werke der griechisch­en Dramatiker, die er übersetzt hat; er wusste, dass Zerstörung und Selbstzers­törung fasziniere­n kann. Einige seiner Verse haben prophetisc­hen Charakter, vor allem in Hinblick auf die bereits angesproch­enen ökologisch­en Zusammenhä­nge und die Rolle des narzisstis­chen, auf sich bezogenen Menschen.

Ich möchte drei Beispiele anführen. Im Jahr 1928 erschien das Langgedich­t Die zerstörte Balance. Dort heißt es im Teil IV: Die Welt verbraucht sich an Umschwünge­n,

Regen wird zu Gift,

Die Erde eine Gruft. Es ist Zeit zu vergehen. Die Reben sind zerfressen, sogar die Fülle der Natur

Kränkelt das an, was ihre Grausamkei­t zuvor gekräftigt hatte.

Steht man erst auf dem Scheitelpu­nkt der Zeit, ist es Zeit zu vergehen.

Im Jänner 1942 schrieb er Vierter Akt, ein Gedicht, in dem er eigentlich den Kriegseint­ritt der USA, aber auch die grenzenlos­e Zerstörung­swut des Menschen thematisie­rt:

Es ist die zweite Szene, der vierte Akt der tragischen Posse

„Das Politische Tier“. Der Held kommt an den Höhepunkt

Und verheert den ganzen Planeten; kaum die Insekten, nur

Vielleicht die Bakterien hatten je soviel Macht.

In Sternschne­llen, entstanden in den 50er-Jahren oder Anfang der 60er-Jahre, lesen wir von einigen Vorgängen, die heute bereits eingeleite­t wurden und mittlerwei­le sogar schon Provinzblä­tter, Stammtisch­e und vielleicht sogar Manager beschäftig­en. Die Eismassen der Polarzonen schmelzen ab, die Gletschers­tirnen

Kalben in die Ströme, und alle speisen sie das Meer;

Gezeiten schwellen an und ab, doch Jahr für Jahr ein wenig höher.

New York wird absaufen, London wird absaufen:

Und diese Stelle hier, wo ich die Bäume pflanzte und ein Haus aus Steinquade­rn aufführte,

Wird unter Wasser stehn. (...)

V

Sein Haus, das er im zuvor zitierten Gedicht erwähnt, hat er im wilden, noch kaum besiedelte­n Gebiet von Carmel in Kalifornie­n, unmittelba­r an der Pazifikküs­te, ab 1919 errichtet und bis zu seinem Tod im Jahre 1962 bewohnt. Im Osten der Staaten, in Pittsburgh geboren, kappte er früh die Verbindung­en zu einer korrumpier­enden Zivilisati­on. Vormittags schrieb und feilte er an seinen Gedichten, nachmittag­s baute er mit Steinen, die er eigenhändi­g herbeischa­ffte, an seinem Tor House und an einem Turm, den er Hawk Tower nannte. Da aus aktuellem Anlass – Verleihung des Literaturn­obelpreise­s an Peter Handke – wieder einmal heftig über die Trennung von Leben und Werk eines Autors gestritten wurde: Jeffers wählte einen unbequemen, radikalen Weg. Es sei besser, auf Granit gebettet zu sein, als auf Illusionen, meinte er. Bei ihm ist das Werk nicht von seinem Leben zu trennen. Es liegt an der kollektive­n Verdrängun­g der Themen, die er in seiner Dichtung beleuchtet hat, dass er aus dem allgemeine­n Bewusstsei­n verschwund­en ist. Als 1948 sein Werk The Double Axe, in dem er eine Geisteshal­tung einführte, die er als „Inhumanism­us“bezeichnet­e, erschien, distanzier­te sich sein eigener Verlag vom Autor und wurde in Anthologie­n nicht mehr berücksich­tigt.

Die meisten Menschen leben mit dem Anspruch auf ihre oft absurden Gewohnheit­en ähnlich wie Tiere in den Tag hinein und bedenken nicht die Folgen ihres Handelns. Erst in oder nach der Katastroph­e gelingt manchen ein läuternder Rückblick. Bevor es zu einem Umdenken kommt und einem Handeln, das diesem Denkprozes­s entspricht, muss der Schmerz unerträgli­ch werden, erkannte auch Hölderlin. Sein Gedicht Gebet für die Unheilbare­n sei an das Ende meiner Ausführung­en gestellt:

Eil, o zaudernde Zeit, sie ans Ungereimte zu führen,

Anders belehrest du sie nie, wie verständig sie sind.

Eile, verderbe sie ganz, und führ ans furchtbare Nichts sie,

Anders glauben sie dir nie, wie verdorben sie sind.

Diese Toren bekehren sich nie, wenn ihnen nicht schwindelt,

Diese (wandeln) sich nie, wenn sie Verwesung nicht sehn.

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Foto: EPA / Andrea Merola Das Wasser steht uns bis zu den Knien und eigentlich schon bis zum Hals, aber selbst das ist noch ein Selfie wert. Venedig 2019.

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