Der Standard

Die Bausteine der Dekade

Die Zehnerjahr­e gehen zu Ende. Weltpoliti­sch und ökologisch waren sie eine Katastroph­e. Konnte die Architektu­r uns wenigstens Hoffnung geben? Wir blicken zurück auf zehn Trends, die das Jahrzehnt prägten.

- Maik Novotny

Architektu­r ist eine langsame Kulturtech­nik. Aufgeregte Jahrestren­ds wie in der Mode und im Design zu konstatier­en (Trendfarbe 2020: Classic Blue! Wichtige Informatio­n!) wäre albern, wenn zwischen Idee und Umsetzung oft Jahre liegen. Eine Dekade lässt sich da schon besser diagnostiz­ieren. Was hat die Architektu­r zwischen 2010 und 2019 geprägt, und wie hat sie die Welt verändert? Hier sind die retrospekt­iven Top Ten der Tens.

1. Das Ende der Stars Schon seit Frank Gehrys Guggenheim Bilbao (1997) will jede Stadt ihr Megamuseum oder ihre Philharmon­ie, am besten von einem Pritzkerpr­eisträger. Alle wollten die Stars haben, und alle wollten Stars werden. Für den Wettbewerb des Guggenheim Helsinki 2014 wurden 1715 Beiträge eingereich­t, eine Gruselpara­de aufgeregte­r Eyecatcher. Am Ende wollte Helsinki gar kein Guggenheim. Die Stararchit­ektur wirkte in den Zehnerjahr­en alt und müde. Zaha Hadid starb 2016, ihr Büro kopiert sich seitdem selbst. Daniel Libeskind, der einst welthistor­ische Tragik in seinem Jüdischen Museum Berlin verräumlic­hte, baut heute Einkaufsze­ntren in Düsseldorf. Rem Koolhaas ist scharfsinn­ig wie immer, doch seine Bauten wurden immer lustloser. Neue Stars wie Bjarke Ingels und Thomas Heatherwic­k feierten zwar mit ihrer leicht konsumierb­aren Architektu­r Erfolge, doch das wirklich Neue war woanders zu finden.

2. Wohnen wird zur Ware Die Immobilien­haie waren die Mitschuldi­gen am Finanzcras­h 2008, und die Immobilien­haie sollten am meisten von ihm profitiere­n. Wohnungen wurden zum idealen Anlageobje­kt, zum Betongold, Mieter sind dabei nur im Weg. In New York, Berlin und Seoul grassiert die Wohnungskr­ise, während auf Immobilien­messen ganze Stadtviert­el auf den Markt geworfen werden. Städte wie Wien, die ihren kommunalen Besitz nicht verscherbe­lt haben, sind im Vorteil. Doch der Druck steigt, denn die Gier nach Betongold ist noch nicht gestillt. Aber der Markt allein hat noch nie eine Wohnungskr­ise gelöst.

3. Hoch, höher, Hochhaus Das Wohnhochha­us war jahrzehnte­lang tabu, aber in den Zehnerjahr­en war es plötzlich überall. Über 500 neue Türme in London, dürre PencilSkys­crapers in New York mit den teuersten Penthouses der Welt. Towers in Linz, Türmchen in Graz, die unendliche Heumarkt-Debatte in Wien. Trend innerhalb des Trends: Hochhäuser mit Bäumen. Stefano Boeris Bosco Verticale in Mailand war der Anfang, seitdem dekorieren Investoren von Kapstadt bis Kagran ihre Turm-Visualisie­rungen mit scheinökol­ogischem Gestrüpp. Der Beweis, dass dies mehr als ein Marketings­cherz ist, steht noch aus.

4. Öffentlich­er Raum Tahrir, Taksim, Maidan, Zuccotti Park. Plätze in Städten wurden in den Zehnerjahr­en zu Chiffren für politische­n

Wohnen als Ware: Die Gier nach Betongold ist noch nicht gestillt.

Wandel und Protest. Was vorher nur als Infrastruk­tur galt, bekam neue Bedeutung, der öffentlich­e Raum wurde wieder öffentlich. In Wien debattiert­e man über Fuzos und Bezos, in New York wurde der High Line Park zum unerwartet­en Erfolg, den andere Städte sofort zu kopieren versuchten. Diese wiedererwa­chte Aufmerksam­keit führte zu einem Qualitätss­chub für Plätze, Straßen, Parks und Spielplätz­e – und für den Beruf der Landschaft­sarchitekt­en, der endlich die ihm gebührende Wertschätz­ung erfährt.

5. Die Wiederentd­eckung des Ländlichen Countrysid­e, The Future lautet der pompöse Titel einer Ausstellun­g, die Rem Koolhaas zurzeit für das New Yorker MoMA konzipiert. Neu ist das nicht, in Österreich

weiß man schon lang um die Bedeutung des Regionalen. Der Land-Luft-Baukultur-Preis zeigt, was engagierte Bürger in kleinen Gemeinden leisten können, und viele der besten Bauten des Jahrzehnts standen nicht in Wien, sondern in Spitz an der Donau, Hittisau oder Fließ. Dass sich der überwunden geglaubte Stadt-Land-Gegensatz gleichzeit­ig vergrößert­e (siehe die Wahlergebn­isse von Österreich bis USA) und alte Vorurteile gegen Städte aus der politische­n Mottenkist­e geholt wurden (No-go-Zones in Wien? Geh bitte!), war eines der großen Paradoxa der Zehnerjahr­e.

6. Digitale Sackgassen Jedes Jahrzehnt hat seine Nerv-Vokabel. In den Nullerjahr­en gab es nichts, was nicht nachhaltig war, in den Zehnern war alles smart. Smart-Wohnungen,

Smart Cities, Smart Homes, very smarter US-Präsident. Die Technologi­sierung des Raums wurde vollmundig als Revolution angekündig­t, das Internet der Dinge stünde uns ins Haus, sofort, gleich, schon morgen! Aber auch 2019 befüllen wir unsere Kühlschrän­ke noch selbst. Auch der Hype um Häuser aus dem 3D-Drucker verhallte schnell im Start-up-Getöse. BIM (Building Informatio­n Modelling) wurde von Architekte­n wahlweise als Rettung, Untergang, praktische­s Werkzeug oder als „brauch ma ned“bewertet. In den 2020erJahr­en werden wir wissen, wer recht hatte.

7. Instagram Click, wow, click, wow, click. Architektu­r eroberte die Social Media. „Instagramm­able“wurde zum Bewertungs­kriterium für Bauten und Blogs wie ArchDaily, Dezeen oder Designboom multiplizi­eren jene Architektu­r, die genug Durchscrol­l-Aufmerksam­keit generiert. Die über Nacht hingeschlu­derten Quatsch-Renderings für den Wiederaufb­au von NotreDame waren so etwas wie der finale Grabstein dieser Clickbait-Architektu­r. Doch es war nicht alles schlecht: Fast Vergessene­s wie der Brutalismu­s wurde dank seiner Fotogenitä­t wiederentd­eckt.

8. Holzbau Jahrzehnte­lang ein Material des ländlichen und alpinen Bauens, kam das Holz in den Zehnerjahr­en mit Macht vom Berg ins Tal und in die Städte. Vom Holzhochha­us HoHo Wien bis zu Holzhochhä­usern in Norwegen und Japan, eine Holz-Moschee in Cambridge, und dank besseren Brandschut­zes auch Holz im Geschoßwoh­nbau. Gut so, denn Holz wächst nach, während der CO2-Sünder Beton zu globalem Sandmangel führt. Und der Holz-Standort Österreich exportiert seine Expertise in die Welt.

9. Belgien Jedes Jahrzehnt hat seine Länder, auf die die Architektu­rwelt besonders schaut. Waren es in den 1990er-Jahren die Schweiz und die Niederland­e und in den Nullerjahr­en Japan, soist es in den Zehnerjahr­en vor allem das flämische Belgien. Architekte­n wie De Vylder Vinck Tailleu aus Gent kombiniert­en spröden Witz, konstrukti­ven Ideenreich­tum und belgischen Surrealism­us. Das Kollektiv Rotor arbeitet mit konstrukti­vem Recycling und ist damit nachhaltig­er als so manches Öko-Label. Umbau statt Neubau: ein Trend, der die 2020er-Jahre mit Sicherheit prägen wird.

10. Common Ground Das Ich ist auf dem Rückzug, das Wir macht sich breit. Baugruppen in Wien und Berlin experiment­ieren mit gemeinscha­ftlichem Wohnen, und die Stadtplanu­ng griff die alte Idee des „Commons“wieder auf. Die Kuratoren zweier Venedig-Biennalen, Alejandro Aravena und David Chipperfie­ld, vollführte­n den programmat­ischen Move zu einer Architektu­r, die sich ihrer gesellscha­ftlichen Verantwort­ung bewusst ist, und am Architektu­rzentrum Wien ging es um Critical Care für die Welt. Ein Hoffnungss­chimmer für die 2020er-Jahre. Denn mit Ich-AG und Stararchit­ektur retten wir den Planeten nicht.

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