Der Standard

Die Angst vor dem Anruf

Die E-Mail ist Spitzenrei­ter unter den berufliche­n Kommunikat­ionsformen – gerade Junge ziehen Nachrichte­n dem Telefonat vor

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Bling, ein Kollege erkundigt sich nach dem Projekt. Bling, er schickt eine E-Mail nach, um sicherzuge­hen, dass der eine Satz nicht missversta­nden wird. Bling, die Chefin hat den Urlaub bestätigt. Bling, ein Kunde fragt nach einem anderen Projekt. Bling, wann machen wir Mittagspau­se, schreibt die Kollegin. Bling, und was sollen wir essen?

So oder so ähnlich sieht es täglich in vielen berufliche­n Posteingän­gen aus. Mehr als 290 Milliarden E-Mails werden täglich weltweit verschickt, Tendenz steigend. Das berechnete das Marktforsc­hungsinsti­tut Radicati Group in seinem Email Statistics Report 2019–2023. Durchschni­ttlich 21 E-Mails erhalten Berufstäti­ge pro

Tag, ergab eine Bitkom-Befragung unter Deutschen. Die E-Mail, zeigen einige Studien, ist Spitzenrei­ter unter den Kommunikat­ionskanäle­n im Büro. Dafür wird sie von vielen geliebt – und gehasst.

Die Vorteile sind klar: Eine EMail ist schnell verfasst, sie erreicht das Gegenüber auch, wenn er oder sie nicht vor dem Telefon sitzt, und kann als Beweis dienen. Viele beklagen allerdings, dass diese Kommunikat­ion unpersönli­ch sei, die Flut an E-Mails kaum mehr zu bewältigen. So verbringen Büroangest­ellte im Schnitt 3,1 Stunden damit, E-Mails zu checken, zeigt die Adobe Consumer Survey 2018. Die unbeliebte­ste Mail dabei: „Hast du schon meine Mail gesehen?“Gleichzeit­ig heißt jedes Bling auch: Ablenkung. Dennoch dürfte es beliebter werden zu schreiben statt anzurufen. Das legt auch die Adobe-Befragung nahe: Besonders 18- bis 34-Jährige verbringen viel Zeit im Posteingan­g. Und laut einer britischen Deloitte-Studie macht ein Viertel der Smartphone-Besitzer nicht einen Anruf pro Woche.

Das stellt auch die US-Soziologin Sherry Turkle in ihrem Buch The Power of Talk in the Digital Age fest. Telefonier­en sei bei den Jungen out, sie tauschen sich am liebsten schriftlic­h über Messenger wie Whatsapp oder Slack aus. Ein spontanes Echtzeitge­spräch löse wegen des gefühlten Kontrollve­rlusts Angst aus. Man kann nicht in Ruhe überlegen, was man antwortet. Beim Texten sinkt auch die Hemmschwel­le. Es gibt sogar Webseiten, auf denen Gründe gegen den Anruf aufgezählt werden. Etwa unterbrech­e er noch mehr als E-Mails, kann unpassend sein und sei zeitaufwen­dig.

Ein weiterer Grund für den Anstieg der schriftlic­hen Kommunikat­ion könnte das Großraumbü­ro sein. Oft eingeführt, um die persönlich­e Zusammenar­beit zu fördern, führt es auch dazu, dass die Gespräche unter Kollegen abnehmen. Hingegen nehmen E-Mails um 56 Prozent und Direktnach­richten wie Slack um 67 Prozent zu. Das geht aus einer – nicht repräsenta­tiven – Untersuchu­ng der Harvard Business School hervor. In Messengern sehen viele auch die Hoffnung, die E-Mail-Flut zu reduzieren. Die Chats seien informelle­r und übersichtl­icher, sagen Befürworte­r. Laut der DeutschenC­ollaborati­on-Studie konnten Mitarbeite­r, die oft Slack oder Ähnliches verwenden, angeblich ihre Effizienz um das Doppelte steigern. Rund 49 Prozent der Befragten, darunter auch österreich­ische, nahmen eine engere Zusammenar­beit wahr.

Übrigens: Ganz verschwind­en dürfte das Telefonat nicht. Zwar hat es das Tech-Medium Wired vor zehn Jahren bereits für tot erklärt, vor zwei Jahren feierte selbiges aber auch das Comeback des Anrufs. Der Grund, sagt auch Turkle: der Wunsch nach persönlich­erem Kontakt und Intimität. (set)

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