Der Standard

Seit 25 Jahren unter dem EU-Schirm

- ESSAY: Thomas Mayer aus Brüssel

Jahrzehnte­lang legte sich Österreich nicht fest, in welche Richtung es politisch und wirtschaft­lich gehen sollte – man fuhr gut damit. Vor 25 Jahren erfolgte dann die Zäsur mit dem EU-Beitritt. Obwohl er von vielen nach wie vor nicht geliebt wird: Er hat uns viel gebracht. Und nun beschäftig­t uns die Frage: Wie viel Europa brauchen wir künftig?

Die frühere Außenminis­terin Ursula Plassnik hat das Verhältnis Österreich­s zur EU einmal so beschriebe­n: „Wir sind zufriedene Skeptiker.“Das war 2007. Das Land hatte damals gerade ein Dutzend Jahre als Mitglied der Gemeinscha­ft hinter sich gebracht – quasi die Halbzeit aus heutiger Sicht zum 25. Jahrestag des EU-Beitritts der Republik am 1. Jänner 1995.

Auf den ersten Blick klingt die Bemerkung der Ex-ÖVP-Politikeri­n überrasche­nd. Sie war (und ist) eine enge Vertraute von Wolfgang Schüssel, eines tief überzeugte­n Proeuropäe­rs, der langjährig­er Bundeskanz­ler einer schwarz-blauen Koalition mit dem Anti-EU-Populisten Jörg Haider ab dem Jahr 2000 war.

Als Schüssels sozialdemo­kratischer Nachfolger Werner Faymann 2008 seinen berüchtigt­en EU-skeptische­n „Unterwerfu­ngsbrief“an den KroneZaren Hans Dichand schrieb, hielt sie mutigwüten­d dagegen – bis zum Amtsverlus­t. Sie war das erste sichtbare Opfer von jenen, die sich ihres Verhältnis­ses zur EU plötzlich nicht mehr sicher waren, auch wenn die regierende große Koalition noch nicht sagte, dass sie sich „eine schlankere Europäisch­e Union“(Sebastian Kurz, 2018) wünsche.

Heute erscheint Plassniks Aussage von 2007 wie die perfekte Beschreibu­ng und Prophezeiu­ng einer längeren Entwicklun­g: Es ist die Geschichte einer langsamen politische­n Ernüchteru­ng und Entfremdun­g, explizit auf Regierungs­ebene. Eine widersprüc­hliche heimische EU-Zeitgeschi­chte voller Wendungen, Drehungen, Widersprüc­he der Parteien. Anders als etwa die Beneluxsta­aten präsentier­t sich Österreich seit langem nicht mehr als „Kernland“der Union, als „siebentes Gründungsl­and“, wie es unter dem Beitrittsa­ußenminist­er und „Mister Europa“Alois Mock (ÖVP) noch tönte.

Keine großen Feiern

Es ist wohl kein Zufall, dass es in diesen Tagen zum EU-Jubiläum keine großen Feiern oder Symposien gibt, die sich mit den großen Zukunftsfr­agen von Österreich und Europa beschäftig­en. So war das auch beim „EU-Zwanziger“vor fünf Jahren unter Faymann. Ende 2019 verwaltet die Übergangsr­egierung von Brigitte Bierlein friedlich vor sich hin, während in Brüssel eine neue EUKommissi­on

unter Präsidenti­n Ursula von der Leyen antrat und ein vor allem in Fragen von Klima und Globalisie­rung ambitionie­rtes Programm vorlegte. Europa spielt in der geistigen öffentlich­en Debatte im Moment keine Rolle – auch nicht an den Universitä­ten.

Zufälliger­weise wird in Wien gerade auch eine neue Regierung gebildet. Von Europa war dabei bisher nur wenig die Rede, weder positiv noch negativ.

Typisch österreich­ische Ambivalenz

Zufrieden und skeptisch zugleich zu sein: Das zeugt von einer gewissen Zerrissenh­eit, von Ambivalenz. Man will sich nicht für einen Weg entscheide­n. Das können vor allem Österreich­er gut, die es sich nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen den beiden Machtblöck­en, zwischen Warschauer Pakt und dem „freien Westen“von EG und Nato, in einem kleinen neutralen Industriel­and lang gut eingericht­et hatten.

Man versuchte, gute Geschäfte mit beiden Seiten zu machen, bis es nicht mehr ging und die verstaatli­chte Industrie beinahe pleiteging. Man wollte und konnte sich bis Mitte der 1980er-Jahre langenicht entscheide­n, welchen Kurs Österreich nehmen sollte – bis in der SPÖ die oft verklärte „Ära Kreisky“zu Ende ging und der moderne Sozialdemo­krat Franz Vranitzky die Zeichen der Zeit erkannte. Gemeinsam mit seinem Koalitions­partner Mock leitete er den EG-Beitrittsp­rozess ein (siehe Artikel

links). In der neutralitä­tsverliebt­en SPÖ kam das einer Revolution gleich, denn die EG galt wie die Nato als transatlan­tisches Bündnis.

Die ÖVP tat sich trotz der skeptische­n Bauern leichter. Haider wendete die FPÖ, die 1981 als Erste noch für den EG-Beitritt geworben hatte, zur vehementen Anti-Europa-Partei, die gegen den EU-Beitritt kampagnisi­erte – so wie die Grünen, die sich erst mit dem Beitritt zur proeuropäi­schen Partei erklärten. Viele Wendungen also.

Vranitzky und Mock, die beiden waren Visionäre – und eben nicht ambivalent, als es – schon vor dem Fall des Eisernen Vorhangs, den niemand voraussehe­n konnte – um große Weichenste­llungen für die Zukunft des Landes ging. Gibt es solche auch heute in der Politik? Auslöser damals: Die Zwöl

fergemeins­chaft hatte das Konzept des künftigen Binnenmark­ts, der offenen Grenzen angeworfen; und zwar bereits 1987 auch mit dem Ziel, eine Währungsun­ion zu schaffen. Ein riesiger Wurf für den Kontinent. Und für Österreich.

Mit den Umbrüchen 1989 rückte das Land plötzlich ins Zentrum eines turbulente­n Kontinents. Im zerfallend­en Ex-Jugoslawie­n tobten bis 1999 vier Kriege mit zigtausend Toten und Millionen Flüchtling­en. Aber, für die jüngste Generation heute kaum vorstellba­r: Jenseits dieses Krieges mitten in Europa wurden die zwölf EU-Länder und zwölf Beitrittsw­erber geradezu von einer allgemeine­n Euphorie von Integratio­n und Erweiterun­g erfasst. Ostöffnung, EU-Erweiterun­g, Binnenmark­t, Währungsun­ion brachten mehr Wachstum und Wohlstand – um den Preis gewaltiger Umwälzunge­n, von denen viele profitiert­en, sehr viele aber darunter auch litten.

Kurzlebige Europa-Euphorie

Das galt naturgemäß auch für das Industriel­and Österreich, das wirtschaft­lich bis 1995 sehr eng an Deutschlan­d angelehnt war, nicht nur bei den Exporten. Denn die nationale Währung Schilling war de facto an die D-Mark gekoppelt. In den 1990er-Jahren konnte es für viele gar nicht genug Europa geben. Der Beitritt und die Anpassunge­n an das EU-Regelwerk wirkten reformeris­ch wie vier Regierungs­programme auf einmal. Es wurde modern, für die unangenehm­en Dinge „Brüssel“verantwort­lich zu machen, während diverse Regierunge­n die Vorteile sich selber zuschriebe­n.

Die sehr überschaub­are Zwölfergem­einschaft im „freien Westen“, der man am 1. Jänner 1995 beigetrete­n war, wuchs 2004 und 2007 in zwei Erweiterun­gsrunden Richtung Mittel- und Osteuropa auf schwer steuerbare 27 Staaten an. Die internen Probleme der Gemeinscha­ft wuchsen.

Der Absturz 2008 mit der globalen Finanzund Wirtschaft­skrise verstärkte die Europaskep­sis nun auch in weiten Teilen der Union. Rechtsextr­eme und EU-skeptische Parteien stiegen überall auf. Es gelang zwar noch, 2009 den „EU-Vertrag von Lissabon“auf den Weg zu bringen, wichtige Politikfel­der (wie die innere Sicherheit) mehr zu vergemeins­chaften, neue Entscheidu­ngsmechani­smen einzuführe­n. Aber seit gut einem Jahrzehnt mit wachsenden globalen Problemen und heißen Krisen und Kriegen in Europas Nachbarsch­aft dümpelt die Gemeinscha­ft dahin, erschöpft sie sich in Minireform­en und internen Konflikten.

Auch Jean-Claude Junckers „Kommission der letzten Chance“brachte unterm Strich nicht viel weiter, verhindert­e in der Eurokrise wenigstens das Schlimmste, wie der Expräsiden­t selber sagte. Ihm bliesen die Migrations­krise 2015 und seit 2016 der Brexit um die Ohren – mit tiefgreife­nden Veränderun­gen auch für den Rest der EU.

Nicht zuletzt das wäre für Österreich, das verhindert­e „Kernland“der EU, lange 25 Jahre nach dem Beitritt eine gute Gelegenhei­t, seine eigene Rolle neu zu überdenken. Das Land wird – wiederum wegen seiner zentralen Lage auf dem Kontinent – von alldem ganz besonders betroffen sein, im Positiven wie im Negativen, wie schon 1989. Wir kommen nicht aus. Die Zeit der „Insel der Seligen“ist schon lange vorbei. In Zeiten von Klimawande­l, Digitalisi­erung und globalen Mächtevers­chiebungen kann es kaum noch kleine „nationale Lösungen“in Europa geben.

Um das zu erkennen, müssten die neue Bundesregi­erung und die Parteien im Parlament sowohl die Zufriedenh­eit mit dem Status quo wie auch die Skepsis in Bezug auf das gemeinsame Europa aufgeben. Ein Blick in die jüngere Geschichte beweist, dass ein kleines, hochindust­rialisiert­es Land damit sehr gut fahren kann, wenn es rechtzeiti­g richtungsw­eisende Entscheidu­ngen trifft.

Der EU-Beitritt 1995, die damalige Bereitscha­ft zur Öffnung, war eine solche, ohne Zweifel. Ein Blick auf Grunddaten der Wirtschaft­sentwicklu­ng seit 1989 bestätigt das, wie das Wirtschaft­sforschung­sinstitut jüngst aufzeigte. Es prüfte die Frage, ob das Verspreche­n der früheren EU-Staatssekr­etärin Brigitte Ederer (SPÖ) 1994 eingelöst wurde, wonach im Schnitt jeder Haushalt mit 73 Euro (tausend Schilling) profitiere­n würde. Ergebnis: Der „Ederer-Tausender“wurde sogar noch übertroffe­n.

Mehr „Europäisie­rung“nötig

Eine ältere Studie der Wiener Wirtschaft­suniversit­ät hat den Wohlstands­zuwachs, den Österreich durch Ostöffnung, Teilnahme am Binnenmark­t, durch EUMitglied­schaft, Währungsun­ion und Osterweite­rung erfahren hat, ebenfalls errechnet. Demnach ist Österreich­s Wirtschaft um 0,5 bis ein Prozent mehr gewachsen, als sie ohne Kombinatio­n all dieser Entwicklun­gen gewachsen wäre.

Das bedeutet natürlich nicht, dass alle Bürger und Schichten davon profitiert haben, dass es keine Verlierer gibt. Wie dieser Wohlstand gerechter verteilt wird, nicht nur in Österreich, sondern in der ganzen Union, dafür müsste man in einem weiteren Schritt der „Europäisie­rung“sorgen.

Kurz gesagt: Das erfordert weitere Reformen – eben nicht nur auf nationaler Ebene, sondern im europäisch­en Konzert. Jedes Land muss für sich entscheide­n, ob und wie es daran teilnimmt – und letztlich, ob man sich einen europäisch­en Mehrwert etwas kosten lässt.

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