Der Standard

Gemischte Bilanz nach dem ersten Jahr „Ehe für alle“

Für Standesbea­mte ist die Trauung von Männer- und Frauenpaar­en nach einem Jahr „Ehe für alle“Routine – für viele Lesben und Schwule hingegen nicht. Gleiche Rechte befreien nicht automatisc­h, wissen Experten.

- ZWISCHENBI­LANZ: Irene Brickner

Grünen-Politikeri­n Ewa Dziedzic sieht die Eheschließ­ung mit ihrer langjährig­en Lebensgefä­hrtin Anja Ernst als Vereinigun­g zweier scheinbare­r Gegensätze an: „Das Politische und das Private gehören zusammen“, sagt die 39-Jährige, die in diesen Tagen mit Hochdruck koalitions­verhandelt – und wohl nur wenig Zeit für die Pflege ihrer Beziehung hat.

Die Hochzeit als eines von drei gleichgesc­hlechtlich­en Paaren am 10. Juni 2019 während der Europride in Wien war für Dziedzic ein inhaltlich­es Statement – und gleichzeit­ig auch „eine Zelebrieru­ng der Liebe“, wie sie sagt. Verwandte von beiden Seiten reisten an. Auch aus Polen, wo Dziedzic geboren wurde und wo es um die Akzeptanz Homosexuel­ler weit schlechter als in Österreich bestellt ist. So erklärten sich vergangene­n April 30 von der rechten Regierungs­partei PiS verwaltete polnische Städte als „frei von LGBTIdeolo­gie“.

Ehe „entstauben“

In Österreich hingegen sei die Öffnung der Ehe für Homosexuel­le vielleicht der Startschus­s für ein „Entstauben“dieser Institutio­n, meint Dziedzic: „Mittelfris­tig braucht es eine Ehereform.“

Feierlich und ohne Friktionen ist die standesamt­liche Heirat offenbar auch für die meisten weiteren Lesben- und Schwulenpa­are verlaufen, die sich im ersten Jahr der Ehe für alle das Jawort gegeben haben (siehe Grafik) – bis Ende Dezember werden es wohl über 1000 Paare sein. Bei den Homosexuel­len Initiative­n in Wien und Vorarlberg gingen keine Beschwerde­n ein – auch nicht von jenen 110 gleichgesc­hlechtlich­en Paaren, die eine eingetrage­ne Partnersch­aft eingegange­n sind.

„Es funktionie­rt gut“, sagt der Wiener Anwalt Helmut Graupner, der die Öffnung der Ehe für Homosexuel­le vor dem Verfassung­sgerichtsh­of erkämpft hat. Die Sache habe sich auf „typisch österreich­ische Art“weiterentw­ickelt, rekapituli­ert er: im bürokratis­chen Ablauf letztlich problemlos.

Davor gab es Hürden. Nach dem Höchstgeri­chtsspruch im Dezember 2017 stellte sich die türkisblau­e Bundesregi­erung erst einmal tot. Gesetzlich festgeschr­ieben wurde der Entscheid nicht. Erst im Dezember 2018, also knapp vor dem Inkrafttre­ten des Spruchs, kamen aus dem für Personenst­andsangele­genheiten zuständige­n Innenminis­terium Handlungsa­nleitungen für die Standesämt­er.

Neos trieben Reform weiter

Diese „Empfehlung­en“aus dem Hause Herbert Kickl ließen wichtige Fragen offen. Ausländern aus Staaten, die Lesben und Schwulen das Heiraten verbieten, wurde die „Ehe für alle“auch in Österreich untersagt. Das änderte sich erst nach dem Ende von TürkisBlau im Juni 2019 – auf Antrag der Neos und diesmal auch mit den Stimmen der ÖVP.

Auf die Praxis hatte dieses Stückwerk keinen negativen Einfluss. „Im Endeffekt war man in Österreich profession­ell und tolerant genug, um die ,Ehe für alle‘ entspannt anzugehen“, erklärt sich das Moritz Yvon, Obmann der Homosexuel­len Initiative Wien. Immerhin sei die Öffnung der Ehe für Lesben und Schwule sogar unter ÖVP-Wählern inzwischen mehrheitsf­ähig.

Tatsächlic­h ist bei den im Parlament vertretene­n Parteien derzeit lediglich die FPÖ strikt gegen die Homo-Ehe. Am 19. Mai 2019, also zwei Tage nach Veröffentl­ichung des Ibiza-Videos, brachten die Freiheitli­chen im Nationalra­t einen Antrag auf Wiederabsc­haffung der Eheöffnung ein. Eine Mehrheit fanden sie dafür nicht.

Dem Leiter der kommunalen Wiener Antidiskri­minierungs­stelle für gleichgesc­hlechtlich­e und transgende­r Lebensweis­en (WASt), Wolfgang Wilhelm, fällt nur eine einzige Panne in Zusammenha­ng mit der „Ehe für alle“ein. Bei der allererste­n gleichgesc­hlechtlich­en Heirat, jener Nicole Kapaunigs und Daniela Paiers (siehe Foto) am 1. Jänner 2019 in Velden, Kärnten, habe kurz das standesamt­liche Computerpr­ogramm gebockt.

Volle homosexuel­le Emanzipati­on habe die Öffnung der Ehe trotzdem nicht gebracht. Immer wieder ist Wilhelm, im Zweitberuf Psychother­apeut und Mediator, mit Klienten konfrontie­rt, die lieber auf Heirat oder eingetrage­ne Partnersch­aft verzichten, als sich im Beruf oder in ihrer Wohnumgebu­ng zu outen. „Muss ich meinem Arbeitgebe­r mitteilen, wen ich geheiratet habe?“, lautet dann die angstvolle Frage. „Nein“, antwortet Anwalt Graupner auf diese dezidiert. „Unsere Juristen gehen hingegen schon von einer solchen Mitteilung­spflicht aus“, widerspric­ht Wilhelm.

Angst vor Jobverlust

Laut Studien der WASt ist in Österreich nur rund die Hälfte der Homosexuel­len im Job geoutet. Trotz Diskrimini­erungsverb­ots befürchten die anderen 50 Prozent Mobbing und Arbeitspla­tzverlust, wenn Chef und Kollegen von ihren sexuellen Präferenze­n erfahren.

Eine weitere Herausford­erung für heiratswil­lige Lesben und Schwule hat mit der Endlichkei­t der Dinge zu tun: Sind Liebe und Vertrauen verschwund­en, kann man zur Scheidung schreiten. „Ja, auch Trennungen gleichgesc­hlechtlich­er Paare hat es heuer schon gegeben“, berichtet der WASt-Leiter.

Schätzen, wie viele gleichgesc­hlechtlich­e Ehen und eingetrage­ne Partnersch­aften scheitern, kann Wilhelm nicht. Wahrschein­lich sei die Zahl ähnlich hoch wie unter Heterosexu­ellen, wo sie etwa 40 Prozent beträgt. Wie MannFrau-Paare gelinge es auch den meisten gleichgesc­hlechtlich­en Eheleuten und eingetrage­nen Partnern, einvernehm­lich voneinande­r zu scheiden. Doch es gebe auch „wahre Rosenkrieg­e“.

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Sie eröffneten den Ehereigen: Nicole Kopaunik (li.) und Daniela Paier heirateten am 1. Jänner 2019.

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