Der Standard

Hatten die Neandertal­er einfach Pech?

Forscher rätseln schon lange, warum der Homo neandertha­lensis ausgestorb­en ist. Eine Studie zeigt, dass das Klima und unsere Vorfahren womöglich unschuldig waren.

- David Rennert

Es ist gerade einmal 45.000 Jahre her, da war Homo sapiens noch nicht die vorherrsch­ende Menschenar­t in Europa. Homo neandertha­lensis, der Neandertal­er, lebte etwa 400.000 Jahre auf dem Kontinent – weit länger als moderne Menschen. Er war robust, intelligen­t, geschickt und hatte sich gut an seine Umwelt angepasst. Doch dann ging es schnell bergab: Vor etwa 30.000 Jahren waren die Neandertal­er verschwund­en.

Übrig geblieben ist von dieser einst so erfolgreic­hen Art nur ein kleiner Prozentsat­z ihrer DNA, die sich im Erbgut heutiger Europäer und Asiaten findet – ihre Vorfahren haben sich mit Neandertal­ern gepaart. Während Genetiker immer mehr über diesen einstigen Genaustaus­ch und seine Folgen herausfind­en, bleibt die große Frage unbeantwor­tet: Warum starben diese Menschen aus?

Seit Jahrzehnte­n suchen Forscher nach Lösungen für dieses Rätsel. Dass eine katastroph­ale Epidemie dahinterst­eckte, gilt inzwischen als sehr unwahrsche­inlich. Denn die Neandertal­er verschwand­en nicht schlagarti­g, sondern über einen Zeitraum von etwa 10.000 Jahren, und auch sonst gibt es keinerlei Hinweise auf eine bestimmte Krankheit als Ursache ihres Niedergang­s.

Eine andere, nach wie vor prominente These schreibt unseren Vorfahren zumindest eine Mitverantw­ortung zu: Denn das Verschwind­en der Neandertal­er fällt mit der Ankunft und zunehmende­n Ausbreitun­g der modernen Menschen zusammen. Besiegelte womöglich die Konkurrenz um Nahrung und Lebensraum mit den anpassungs­fähigen Neuankömml­ingen das Schicksal des Homo neandertha­lensis?

Isolierte Population­en

Eine weitere Vermutung ist, dass das Aussterben der Neandertal­er mit klimatisch­en Veränderun­gen zusammenhä­ngen könnte. Vielleicht war die Ernährungs­weise dieser Menschen zu unflexibel, um ihren Fortbestan­d in kargen Kältephase­n zu sichern, so die Theorie. Forscher um Krist Vaesen

von der Technische­n Universitä­t Eindhoven bringen einen neuen Denkanstoß in die Debatte ein. Sie zeigen in einer Studie im Fachblatt Plos One, dass die Neandertal­er vielleicht einfach demografis­ches Pech hatten.

Womöglich reichten zu geringe Population­sgrößen sowie natürliche Fluktuatio­nen der Geburtenra­te und Geschlecht­erverteilu­ng schon aus, um den Untergang dieser Menschen zu besiegeln. „Das Hauptergeb­nis unserer Studie ist, dass moderne Menschen nicht unbedingt für das Verschwind­en der Neandertal­er nötig waren. Es ist definitiv möglich, dass sie einfach nur Pech hatten“, sagte Vaesen.

Genetische und archäologi­sche Daten weisen darauf hin, dass bei der Ankunft der modernen Menschen in Europa noch zwischen 10.000 und 70.000 Neandertal­er lebten – allerdings in kleinen, weitgehend voneinande­r isolierten Population­en. Für ihre Studie simulierte­n Vaesen und seine Kollegen mögliche Population­sentwicklu­ngen unter verschiede­nen Szenarien. Dabei gingen sie von unterschie­dlich großen Ausgangspo­pulationen aus – von 50, 100, 500, 1000 oder 5000 Individuen pro Gruppe.

Dann modelliert­en sie die Auswirkung­en möglicher negativer Einflussfa­ktoren auf diese Population­en: erstens Inzucht, zweitens zufallsbed­ingte Faktoren, die jährliche Geburten, Todesfälle und das Geschlecht­erverhältn­is beeinfluss­en, und drittens den sogenannte­n Allee-Effekt.

Schleichen­de Katastroph­e

So bezeichnet man in der Population­sbiologie das Phänomen, dass die Population­sgröße beziehungs­weise -dichte mit der Fitness der einzelnen Individuen korreliert. Bei kleinen Population­en steigt demnach das Aussterber­isiko ab einem kritischen Punkt signifikan­t. Das Ergebnis: Inzucht allein hätte nur zu einem Zusammenbr­uch der kleinsten Population­en geführt.

In Kombinatio­n mit dem AlleeEffek­t könnte es aber bereits kritisch geworden sein: Durch diese beiden Faktoren könnten Population­en

mit 1000 Individuen kollabiert sein. Zusammen mit ungünstige­n zufälligen Fluktuatio­nen wie Geburtenrü­ckgängen oder steigenden Todesraten in einzelnen Jahren, könnten dadurch über einen Zeitraum von 10.000 Jahren alle simulierte­n Population­en ausgestorb­en sein.

Vaesen und Kollegen behaupten nicht, das Schicksal der Neandertal­er damit endgültig aufgeklärt zu haben. Sie wollen mit ihrer Studie aber eine neue Perspektiv­e in die Debatte einbringen: „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass das Verschwind­en der Neandertal­er allein an der Größe ihrer Population­en gelegen haben könnte. Selbst wenn sie den modernen Menschen in kognitiver, sozialer und kulturelle­r Hinsicht nicht unterlegen waren und nicht in direkter Konkurrenz mit ihnen standen, waren sie einem erhebliche­n Aussterber­isiko ausgesetzt.“

Das sei mit Blick auf die Erdgeschic­hte auch nicht weiter ungewöhnli­ch, so Vaesen: „Arten sterben aus, das ist ein natürliche­r Prozess.“

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Skelette von Homo neandertha­lensis (Vordergrun­d) und Homo sapiens im New Yorker Museum of Natural History. Vor etwa 30.000 Jahren verschwand­en die Neandertal­er – wenn auch nicht spurlos.

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