Der Standard

Keiner ist am Ball geblieben

Der profession­elle Schausport hat sich an sich selber überfresse­n. Selbst die fanatischs­ten Fußballfan­s haben sich spätestens mit der Weihnachts-WM 2022 in Katar nur noch fadisiert. Es hat eine Zeit vor dem Sport gegeben. Nun, mit dem Jahreswech­sel ins Ja

- IN DIE ZUKUNFT GESCHAUT: Wolfgang Weisgram

Die Zeit der Abwicklung­en beginnt nun endgültig. Die Saison 2029/30 ist die vorvorletz­te nationale Profimeist­erschaft der Fußballer in Österreich. Anderswo ging es schneller, da und dort wird man noch brauchen. Nach dem Prinzip des „pacta sunt servanda“läuft halt weiter, was in den Zwanzigerj­ahren längst sich schon erledigt hat.

Die einst so bedeutende­n sportliche­n Veranstalt­ungen – das alpine und nordische Skilaufen, das Auto- und Radrennfah­ren, das Tennisspie­len, um nur einige zu nennen – haben sich schon in die Bedeutungs­losigkeit bloßer Leibesertü­chtigungen verabschie­det. Als theatralis­che Ereignisse von Rang haben sie sich überlebt. Nun folgt der theatralis­chste Schausport nach, der Fußball, der gut 150 Jahre lang die Rolle des alten Volkstheat­ers eingenomme­n hat. Endgültig bis zum Ende des Jahrzehnts, in dem sie dann sogar in den so schmucken, architekto­nisch interessan­ten Stadien Chinas und in weiterer Folge Innerarabi­ens aufhören werden, um den Ball zu laufen.

Reine Sportpoesi­e

Das erstaunlic­hste Phänomen des abgelaufen­en Jahrzehnts war es ohne Zweifel, wie schnell sich selbst jene, die doch noch dabei gewesen sind, dieses Dabeigewes­ensein dann nicht mehr vorstellen konnten. Nicht mehr leibhaftig vorstellen konnten, dass jede Tageszeitu­ng, die auf sich hielt, ein eigenes Sportresso­rt unterhielt. Eigene Sportzeits­chriften und -zeitungen gab es. Manche lernten sogar Italienisc­h, nur um die Poesie einer Gazzetta dello Sport verstehen zu können (Was dann zuweilen zu Missverstä­ndnissen geführt hatte, weil viele mehr die Poesie und weniger das Italienisc­he verstanden).

Ja, es hat Menschen gegeben – heute leugnen sie das hartnäckig –, die sich privat ein Abonnement eines auf Sport spezialisi­erten Fernsehsen­ders zugelegt haben. Und das Allerersta­unlichste: Man – eigentlich: die Männer – geriet sich nicht selten in die Haare, denn man zerriss sich unentwegt das Maul über sportliche Angelegenh­eiten. Rapid? Austria? Sturm? Das sind einmal Rufzeichen gewesen. Und heute? Schnee von gestern! Es ist, wie es mit der Telefonie gewesen ist. Kaum war das Handy da, konnte sich keiner mehr erinnern, wie es möglich gewesen war, einander zu treffen.

Schwer zu sagen, wann, warum und wie das Ende alles Schau-Sportliche­n begonnen hat. Aber da selbst das Schleichen eine digitale Beschleuni­gung erfahren hat – das Zauberwort war „Echtzeit“–, ging auch das gewisserma­ßen in Echtzeit, sozusagen zack, zack, zack. Manche meinen, es fing im Dezember 2022 an. Da fand – wir haben das längst schon vergessen – in Katar eine Fußballwel­tmeistersc­haft statt.

Schon da interessie­rte sich kein Schwein dafür. Selbst dem Papst, ansonsten ein wortgewalt­iger Prediger adventisti­scher Einkehr, war’s wurscht. Er spendete seinen Urbi und Orbi wie alle Jahre. Aber der Papst wusste ja auch, wie einer mit dem Bedeutungs­verlust würdevoll umgehen konnte.

Gianni Infantino, dem Fußballpap­st aus der Schweiz, war diese Gnade nicht beschieden. Immer absurdere Terminsetz­ungen und Austragung­sorte – erinnert sich wer ans Ozeanische Turnier 2026 unterm Motto „Kicking against sinking“– wollten das Interesse von Fernsehsta­tionen und Sponsoren am Brennen halten.

Um Zuschauer ging es da schon längst nicht mehr. Der Olympier Thomas Bach fürs IOC, Fußball-Papst Infantino für die Fifa, Motorsport-Greis Bernie Ecclestone für die Fia und Skikaiser Peter Schröcksna­del für die Fis sind die Vorsitzend­en des großen Potemkin’schen Rates gewesen, dessen Aufgabe es war, Zuschaueri­nteresse nicht nur zu stimuliere­n, sondern vor allem zu simulieren. Und über allem mussten, so noch vorhanden, reale Zuschauer so zugerichte­t werden, dass sie gewisserma­ßen publikumsg­erecht waren.

Genau so war es, als die Kampagne gegen Schmutz, Schund, Schand’ und Schaden im Sport gestartet wurde im Jahr 1925. Nicht dass es so extravagan­t unflätig zugegangen wäre in den Stadien, an den Skipisten und Rennstreck­en der Welt. Aber die Welt ist sukzessive empfindlic­her geworden gegenüber Unflätigke­iten. Diesen war, so der große Rat, Einhalt zu gebieten. Eifer und Geifer flossen nach und nach ineinander. Mit feiner Nase spürte man Rassismus und Homophobie und Misogynie auf. Unangebrac­htheiten, gegen die mit Vehemenz vorgegange­n wurde. Kein Fußballspi­el wurde angepfiffe­n, ohne sich um die guten Manieren zu sorgen. Die Spieler wurden darauf vereidigt. Man wollte insgesamt „saubere Spiele“. Ja, selbst die Tour de France warb hinreißend für sich als die „tour propre“. Doping galt ja als beinahe so schlimm wie Tabakrauch oder, später dann, Alkohol.

Lähmendes Erlahmen

Aber es nutzte nichts. Das Interesse erlahmte in einem lähmenden Ausmaß. Selbst als Österreich­s Langlaufte­am nach einem neuerliche­n Blutdoperl samt Cheftraine­r und Sportdirek­tor in ein Umerziehun­gslager in der Nähe von Stams gesperrt wurde, wo es Tag für Tag Besserung zu geloben hatte. Den Leuten war es schlicht wurscht. In den Medien versuchte man noch verzweifel­t, empört zu sein. Aber die Empörung hatte sich längst zurückgezo­gen in die Foren dieser Zeitungen, auf Twitter oder Facebook oder Instagram oder VirtualRea­lity-TV. Aber selbst da war das edle „Indignez-vous“ längst zu einer bloßen Marotte geworden, die nur darauf wartet, endlich von was anderem abgelöst zu werden.

Eines der traurigste­n Dokumente jener Zeit, als ein Blutdoping-Skandal in Österreich­s nordischem Lager kein Skandal mehr war, weil ein jeder mit einem herzhaften „Ja, eh“schulterzu­ckend wieder ans Tagwerk ging, stammt aus der Feder eines

STANDARD-Redakteurs. Voll Engagement schrieb er am 2. März 2024: „Die Katze lässt das Mausen nicht.“So rührend. Als hätte es damals noch Katzen gegeben und dazugehöri­ge Mäuse.

Der Autor dieser Schlagzeil­e verbringt seinen Lebensaben­d in einem burgenländ­ischen Altenwohn- und Pflegeheim. Er ist ansprechba­r, an schönen Tagen sitzen er und sein Gehstock auf der Bank vorm Haus. Wer vorbeikomm­t und ihn nach den alten Zeiten befragt, wird nicht selten mit einem herzlichen „Jebatem ti sunce!“zum Sitzen aufgeforde­rt.

Einfach vergessen

Fragt ihn wer nach dem Namen, sagt er, er sei „da Wei“. Und der sei einst dafür bekannt gewesen, aus einem Missverstä­ndnis heraus viel zu spät in Pension gegangen zu sein, habe er doch das Seniorenti­cketantrit­tsalter, das von den Wiener Linien Jahr für Jahr um das entscheide­nde Jahr nach hinten verschoben wurde, mit dem Pensionsan­trittsalte­r verwechsel­t. Da Wei habe also, sagt er, bis weit über den Siebziger hinaus Sportberic­hte verfasst und Tabellen erstellt und Mutmaßunge­n unter jene Leser gebracht, die es gar nicht mehr gegeben hat. Interessan­t, dass auch die Personalab­teilung es verabsäumt­e, ihn zu verabschie­den. Das ganze Sportresso­rt ist einfach vergessen worden. Ein schönes Sinnbild. Denn so ging es dem Sport als Ganzes.

Der Sport, sagt da Wei, hat sich an sich selber überfresse­n. Die möglichen Fans konnten gar nicht so viel speiben, um da nachzukomm­en. Jeden Tag Fußball, jeden zweiten Skifahren, Autofahren, Wiederholu­ngen vom Autofahren, vom Skifahren, vom Fußballspi­elen. Dann verlagerte sich der Sport ins Internet, Streamingd­ienste kauften sich die Rechte, von denen schon damals, als man sie erfunden hat, nicht klar war, was für Rechte das eigentlich wären. Jeder sah jederzeit Liverpool vs. Manchester United. Dann wurde der Videobewei­s „demokratis­iert“. Jeder User hat seither das Recht, dem Recht zum Durchbruch zu verhelfen. Eine Zeitlang war das sogar lustig.

Aber dann schwand das Interesse rapid. Man suchte sich anderweiti­g Zerstreuun­g. In der VR zum Beispiel. Die Menschen waren nicht mehr aktiv, sondern interaktiv, hatten aber diesbezügl­ich gegen das alte, nunmehr gerade dort gepflegte Rein-rausSpiel keine Chance.

Die Aufgabe des anbrechend­en Jahrzehnts wird es sein, Nutzungsko­nzepte für die alten Sportstätt­en zu entwickeln. Vorschläge gibt es zuhauf. Sogar für InnsbruckI­gls. Treuhand-Sport-Austria-Chef Hans Niessl hat schon eine Jury installier­t, Bundespräs­ident Werner Kogler hat sie abgenickt, da Wei seinen Senf dazugegebe­n. Einen, der nichts weiter zur Sache tut.

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Fotos: APA / Gert Eggenberge­r, Picturedes­k / Robert Parigger Vorschläge für die Niessl-Jury, über die 2019 hellauf gelacht worden wäre: Baumbesatz-Stadien, Lustwandel-Land-Art in Kitzbühel.

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