Der Standard

Paul Lendvai sieht Journalist­en im Visier.

Es hat die Republik 2019 in seinem Bann gehalten und den Weg für eine neue Koalition frei gemacht. Welchen Beitrag das Ibiza-Video zu einer demokratis­chen Gesellscha­ft leistet –und was das strafrecht­lich impliziert.

- Alexander Somek

Gehören die Produzente­n des Ibiza-Videos strafrecht­lich verfolgt? Es scheint so. Das österreich­ische Strafgeset­zbuch stellt in seinem Paragrafen 120 eine Person unter Strafe, die sich mittels eines Aufnahmege­räts von einer nichtöffen­tlichen und nicht zu ihrer Kenntnisna­hme bestimmten Äußerung eines anderen Kenntnis verschafft. Strafbar ist unter anderem auch die Weitergabe zur Veröffentl­ichung solcher Aufnahmen.

Es dürfte also schlecht aussehen für alle, die daran beteiligt waren, Heinz-Christian Strache eine Falle zu stellen, und das Video weitergege­ben haben. Was die Presse tun darf, steht auf einem anderen Blatt. Aber die Angelegenh­eit verdient einen zweiten Blick. Denn der Rechtsstaa­t ist komplizier­t; aber so komplizier­t auch nicht.

Im Prinzip darf man bei uns sagen, was man will, und wenn man etwas gefunden hat, dann darf man es herzeigen. Informatio­nen dürfen verbreitet werden. Diesem Recht sind Grenzen gesetzt. Gezogen werden diese durch Gesetze, vor allem durch das Strafgeset­z.

Aber dem Grenzenzie­hen sind selbst wieder Grenzen gezogen. Bestimmt werden sie durch das Verfassung­srecht. Artikel 10 der Europäisch­en Menschenre­chtskonven­tion gestattet es, etwa zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, die Kommunikat­ionsfreihe­it zu beschränke­n. Er gestattet es aber nur so weit, als eine Einschränk­ung aus den genannten Gründen in einer demokratis­chen Gesellscha­ft notwendig ist. Aufgrund dieser Bedingung sind das Funktionie­ren der Demokratie und die Bedürfniss­e einer wohlinform­ierten demokratis­chen Öffentlich­keit relevant dafür, welche Grenzen der Kommunikat­ionsfreihe­it gezogen werden dürfen.

Kein Delikt

Das Strafrecht begrenzt zwar die Kommunikat­ionsfreihe­it, und wer diese Grenzen überschrei­tet, macht sich strafbar; aber mitunter liegt ein Delikt gar nicht vor, auch wenn es so aussehen mag. Das ist der Fall, wenn das an sich verbotene Verhalten – die geheime Aufnahme und deren Weitergabe zur Verbreitun­g – gerechtfer­tigt ist.

Für den, der für sein Verhalten über eine Rechtferti­gung verfügt, ist die Kommunikat­ionsfreihe­it wiederherg­estellt.

Zur Bestimmung einer solchen Rechtferti­gung ist aber das Verfassung­srecht relevant. Denn das Verfassung­srecht setzt, wie oben erwähnt, der strafrecht­lichen Begrenzung der Kommunikat­ionsfreihe­it selbst wieder Grenzen. Selbst wenn also das positive Recht lückenhaft ist und einen verfassung­srechtlich gebotenen Rechtferti­gungsgrund nicht explizit vorsieht (wie es in Österreich der Fall zu sein scheint), muss die aufgetrete­ne Lücke durch eine verfassung­skonforme Rechtsfort­bildung geschlosse­n werden.

Zu schwierig? Wohl nicht, denn der Rechtsstaa­t ist zwar komplizier­t, aber so komplizier­t auch wieder nicht.

Die Kommunikat­ionsfreihe­it kann umfangreic­her oder geringer ausfallen. Ob sie umfangreic­her oder geringer ausfallen soll, erkennt man mit Blick auf die Verfassung. Sie erhebt die demokratis­che Gesellscha­ft zum Wertmaßsta­b. Daher muss für die Beurteilun­g einer Rechtferti­gung darauf geachtet werden, ob eine Verletzung der Privatsphä­re oder des Rufes einer Person Informatio­nen ans Licht bringt, deren Verbreitun­g zum demokratis­chen Prozess beitragen oder für diesen sogar unerlässli­ch sind. Wenn diese Voraussetz­ung gegeben ist, wäre eine Kriminalis­ierung des Verhaltens in einer demokratis­chen Gesellscha­ft nicht nur nicht notwendig, sie wäre sogar kontraprod­uktiv.

Wert der Demokratie

Unter welchen Voraussetz­ungen ein Verhalten unter diesem Vorzeichen gerechtfer­tigt sein kann, lässt sich nicht in eine starre Regel fassen. Das muss kontextspe­zifisch beurteilt werden. Der Schutz der Privatsphä­re und des guten Rufes der Betroffene­n ist gegen das öffentlich­e Interesse an der Informatio­n abzuwägen. Wenn dieses Interesse von überragend­er Bedeutung ist, weil die Informatio­n enthüllt, wie korrupt Regierungs­mitglieder oder Volksvertr­eter sind, dann ist es in einer demokratis­chen Gesellscha­ft nicht notwendig, die Gewinnung und Weitergabe dieser Informatio­n zu bestrafen. Denn ohne dieses Verhalten wäre dem Informatio­nsinteress­e der Öffentlich­keit nicht gedient.

Gewiss berühren die Produktion und die Weitergabe zur Veröffentl­ichung des Ibiza-Videos die Privatsphä­re der Beteiligte­n. Was man zu sehen bekommt, ist zutiefst peinlich. Aber gemessen an der enormen politische­n Relevanz dieser Informatio­n fällt die Indiskreti­on nicht ins Gewicht.

Der Rechtsstaa­t ist komplizier­t, aber so komplizier­t auch wieder nicht. In einer liberalen Gesellscha­ft, so sagte schon John Stuart Mill, sollten wir im Zweifel lieber zugunsten der Redefreihe­it irren als zugunsten ihrer Beschränku­ng. Oder anders gesagt: Was ist schlimmer für den Rechtsstaa­t – zweifelhaf­te Charaktere in Regierungs­verantwort­ung oder ein wenig zwielichti­ge Umstände bei deren Demaskieru­ng?

ALEXANDER SOMEK ist Rechtswiss­enschafter und seit 2015 Professor am Institut für Rechtsphil­osophie an der Universitä­t Wien. Zuvor war er unter anderem Gastprofes­sor an der London School of Economics und an der Princeton University.

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Für Heinz-Christian Strache eine „b’soffene G’schicht“. Doch die Folgen des auf Ibiza aufgenomme­nen Videos beschäftig­en die Innenpolit­ik auch noch 2020.

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