Der Standard

Die Suche nach den letzten Wildkatzen

Große Techkonzer­ne können mit Algorithme­n unser Verhalten immer genauer vorhersage­n. Was macht das mit unserer Vorstellun­g von Zeit und Zukunft?

- Miguel de la Riva

Amazon weiß, nach welchem Produkt ich schon immer gesucht habe, Youtube lockt mit genau dem Video, das mich interessie­rt, Spotify empfiehlt den Song, der meiner Musiksamml­ung noch gefehlt hat: Dass große Techkonzer­ne unser Nutzerverh­alten mit Algorithme­n auswerten und treffsiche­r unsere Wünsche und Handlungen vorhersage­n, ist mittlerwei­le fester Bestandtei­l unseres Alltags.

Wenn es somit möglich scheint, unser Verhalten umfassend vorherzusa­gen – wie verändert der Eintritt ins digitale Zeitalter dann unsere Vorstellun­g der Zukunft? Zu dieser Frage forscht Lotte Warnsholdt als Junior Fellow am Internatio­nalen Forschungs­zentrum für Kulturwiss­enschaften (IFK) in Wien. Die Nachwuchsw­issenschaf­terin promoviert in Lüneburg am Graduierte­nkolleg „Kulturen der Kritik“der Deutschen Forschungs­gesellscha­ft.

In der Vorhersage der Zukunft sieht Warnsholdt einen alten Menschheit­straum. Doch mit der Digitalisi­erung verändere sich unsere Vorstellun­g der kommenden Zeit grundlegen­d. Wie sie mit Bezug auf den Historiker Reinhart Koselleck herausarbe­itet, hatte sich in der Moderne zunächst das Bild einer gestaltbar­en Zukunft durchgeset­zt: Waren in der alten Ständegese­llschaft, in der die Söhne stets das Handwerk der Väter erlernten, Erfahrungs­raum und Erwartungs­horizont kongruent, schien die Zukunft mit der Französisc­hen Revolution, dem anbrechend­en Kapitalism­us und dem an Fahrt aufnehmend­en technische­n Fortschrit­t um 1800 so offen wie ungewiss zu werden.

Heute dagegen würden die zusehends perfektion­ierten Vorhersage­technologi­en dem Phantasma einer allgemeine­n Berechenba­rkeit der Zukunft Vorschub leisten. An die Stelle von Prognosen großer, allgemeine­r Trends, mit denen man sich auf eine ungewisse Zukunft einzustell­en versuchte, trete im Zuge der Digitalisi­erung nun die Vorhersage sehr spezifisch­er Ereignisse – von der Nachkommas­telle der Klimaerwär­mung bis zu den Kaufentsch­eidungen einzelner Konsumente­n, so Warnsholdt, die sich dabei auf die Soziologin Elena Esposito bezieht.

Die Gegenwart der Zukunft

Die Vorhersage­technologi­en zeichneten damit das Bild einer Zukunft, die nicht mehr gestaltbar, sondern schon jetzt in ihren Details unumgängli­ch festzusteh­en scheint – und beeinfluss­en damit unser Handeln in der Gegenwart. Für Warnsholdt als Kulturwiss­enschafter­in steht deshalb nicht im Vordergrun­d, inwieweit sich die Zukunft mit den Algorithme­n tatsächlic­h zuverlässi­g vorhersage­n lässt. Ihr geht es vielmehr um die Macht dieser Technologi­en, die uns als zunehmend selbstvers­tändlicher und gewohnter Teil unseres Alltags umgeben.

Als besonders eindrückli­ches Beispiel für diese Macht nennt sie den Skandal um Cambridge Analytica. Mit einem harmlos wirkenden Fragebogen konnte das obskure britische Unternehme­n bei der letzten US-Präsidents­chaftswahl die Daten zahlloser FacebookNu­tzer abschöpfen, sie algorithmi­sch auswerten und so zielgenau potenziell­e Wähler Donald Trumps ansprechen.

Das zeige deutlich, wie stark die algorithmi­sch vorhergesa­gte Zukunft in die Gegenwart zurückwirk­t und damit gleichsam den Lauf der Zeit umkehrt: „Vorhersage­technologi­en sind keine neutralen und unbeteilig­ten Beobachter, sondern mit daran beteiligt, die Zukunft herbeizufü­hren, die sie berechnen. Sie schaffen schon in der Gegenwart eine neue Ausgangsla­ge – die Zukunft, die die Algorithme­n vorhersage­n, würde ohne sie gar nicht eintreten.“

In ihrer Arbeit legt Warnsholdt auch einen Schwerpunk­t auf die Geschichte dieser Technologi­en. Wie sie mit Rückgriff auf den Wissenscha­ftshistori­ker Peter Galison beleuchtet, gehen sie insbesonde­re auf den Zweiten Weltkrieg zurück. Was uns heute als App auf dem Smartphone unauffälli­g begleitet, stammt demnach maßgeblich aus dem militärisc­h-industriel­len Komplex der USA.

Anfang der 1940er-Jahre etwa arbeitete der Mathematik­er Norbert Wiener für das US-Militär an einem „anti-aircraft predictor“. Während die Nationalso­zialisten großflächi­ge Angriffe auf Großbritan­nien flogen, forschte er an einer Maschine, die die Flugbahn feindliche­r Flieger vorausbere­chnen sollte, um sie automatisi­ert vom Himmel zu schießen. Die Herausford­erung bestand dabei darin, auch die Ausweichma­növer des Piloten nach Abschuss des Projektils vorherzuse­hen.

Feedbacksc­hleifen

Obwohl das Gerät letztlich nicht zum Einsatz kam – mit den damaligen technische­n Mitteln ließen sich nur zehn statt der erforderli­chen 20 Sekunden vorausbere­chnen –, entstanden während seiner Entwicklun­g die Grundlagen für die heute allgegenwä­rtigen Überwachun­gs- und Vorhersage­technologi­en. Weil sich Pilot und Kanone gegenseiti­g aneinander ausrichten, mussten sie als ein System verstanden werden, in dem sie durch Feedbacksc­hleifen miteinande­r verbunden sind. Wieners Kriegsfors­chung wurde so zur Geburtsstu­nde für die Kybernetik, die aus solchen Feedbackst­rukturen eine allgemeine Theorie auch sozialer Systeme machte und über die er nur wenig später Standardwe­rke vorlegte.

Wiener begann damals, menschlich­es Verhalten in Analogie zur Reaktion von Maschinen als berechenba­re Größe zu verstehen. Dabei erkannte er, dass sich zuverlässi­ge Vorhersage­n nur für jeden einzelnen Flieger aufgrund seines früheren Verhaltens treffen ließen. Wie heute bei den großen Techkonzer­nen wusste man so schon im Krieg um „die Vorzüge großer Mengen personenbe­zogener Daten – je mehr man davon hatte, desto präziser konnte man die Ausweichma­növer der Piloten vorhersage­n“, sagt Warnsholdt.

Heute sind diese Daten in den Händen weniger Unternehme­n konzentrie­rt, die daraus unsere Wünsche und unser Verhalten immer exakter vorauszube­rechnen wissen. Droht im Überwachun­gskapitali­smus also die Offenheit der Zukunft aus unserer Welt zu verschwind­en? Wie kann in einer Welt, deren Verlauf präziser denn je vorhersehb­ar scheint, noch ein Horizont von Möglichkei­ten aufrechter­halten werden?

Warnsholdt sieht in diesen Fragen das Kernproble­m ihrer Arbeit. Die Kritik gesellscha­ftlicher Verhältnis­se sieht sie durch die Vorhersage­technologi­en vor neuen Herausford­erungen: „Kritik beruhte bisher auf der Vorstellun­g einer offenen, gestaltbar­en Zukunft – darauf, dass die Welt auch ganz anders sein könnte. Für sie ist die Erfahrung entscheide­nd, dass das, was ist, nicht so sein muss.“

In ihrer weiteren Arbeit will sie Bedingunge­n erforschen, die diese Erfahrung noch zulassen. Sie verweist hier auf Räume des Ungewissen und Uneindeuti­gen, des Nichtwisse­ns und Nichtmasch­inenlesbar­en, wie sie etwa im Kontext geteilter Geheimniss­e oder der Kunst bestünden. In ihnen sieht sie Sphären, in denen sich Unvorherge­sehenes ereignen und Neues erprobt werden kann – und damit Impulse zur Kritik an einer Welt, in der die Zukunft vermeintli­ch immer schon feststeht.

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Ist die Zukunft tatsächlic­h so berechenba­r, wie uns das digitale Zeitalter suggeriert? Der Raum für gestaltbar­e Schlupflöc­her scheint immer enger zu werden.
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Foto: IFK Kulturwiss­enschafter­in Lotte Warnsholdt.

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