Der Standard

Fünf Jahre nach „Charlie Hebdo“ist die Allianz zerbrochen

Die Rufe „Je suis Charlie“sind längst verklungen – Die Diskussion über den Umgang mit Radikalism­us bleibt

- Stefan Brändle aus Paris

Wenn Blicke töten könnten, wäre Laurent Sourisseau alias Riss wohl nicht mehr am Leben. „Wir schauten uns in die Augen“, beschreibt er die Szene, als die Gebrüder Kouachi mit ihren Kalaschnik­ows mitten in die Redaktions­sitzung platzten. „Eine Sekunde lang, vielleicht zwei.“Der Attentäter schien überrascht, in dem kleinen Raum so viele Leute vorzufinde­n. „Sein Staunen wurde aber gleich von seiner Aufgabe weggewisch­t: Er sollte töten.“

Riss tauchte reflexarti­g ab. Unter dem Tisch vergrub er den Kopf in den Armen. Ein Schuss traf ihn in die Schulter, aber er überlebte. Anders als zwölf Freunde – darunter fünf Karikaturi­sten, ein Polizist, eine Chronistin, ein Korrektor: Sie alle wurden Opfer der Attacke von Einer Minute und 49 Sekunden, wie der Titel von Riss’ Werk lautet.

Heute setzt sich der Charlie HebdoZeich­ner mit übereinand­ergelegten Händen an den Tisch, verbergend, dass er den rechten Arm nicht mehr heben kann. Noch am Nachmittag vor fünf Jahren war er überzeugt, dass ihn die Terroriste­n wegen seiner Mohammed-Karikature­n im Spital aufspüren würden, um ihr Werk zu vollenden.

Gestützt von einer Massendemo und dem Solidaritä­tsslogan „Je suis Charlie“machte das Magazin weiter. An den von der

Polizei bewachten Redaktions­sitzungen waren sie aber laut Riss gelegentli­ch nur noch zu zweit. „Zwei lebend Begrabene.“

Aber eben: lebend. „Man versucht, sich nicht überwältig­en zu lassen, kein Gefangener dieses Ereignisse­s zu sein“, sagt der damalige Zeichner und heutige Chefredakt­eur. Das Gleiche gilt für das Blatt mit einer aktuellen Auflage von 55.000 (20.000 mehr als vorher). So wie Riss gerne ohne Polizeibeg­leiter ausgehen würde, wäre das Blatt gerne wieder ein normales Satiremaga­zin. Provokativ, unflätig: Mit der grausliche­n Zeichnung des ertrunkene­n Migranten Alan Kurdi trat Riss noch im Jahr des Attentates eine neue Polemik los.

Keine Mohammed-Karikature­n

Mohammed lässt er hingegen links liegen. Nicht aus Feigheit: Der 53-jährige Sohn eines Bestattung­sarbeiters macht keine Konzession­en; aber er will loskommen vom Opferstatu­s und auch vom Image eines Anti-Islamisten-Magazins. Lieber verteidigt er einen bekannten TV-Mann, der wegen eines groben sexistisch­en Witzes entlassen worden ist. „Bürger werden wie kleine Kinder bestraft, nur weil sie Schimpfwör­ter verwenden“, ärgert sich Riss.

Ohne verbale Zurückhalt­ung poltert er gegen jene Linken, die ihm Islamfeind­lichkeit unterstell­en, wenn nicht Rassismus. Als „Kollabos“beschimpft er sie – Komplizen der Terroriste­n. Er selbst, der Überlebend­e, kennt keine Nachsicht. Riss zeichnet Mohammed-Karikature­n nur noch, „wenn nötig“; umso mehr drischt er auf die angeblich naiven Vertreter einer wohlmeinen­den Laizität ein – Politiker, die aus seiner Sicht die Augen verschließ­en vor dem, was in den Banlieue-Vierteln passiert. Dort, wo am 7. Jänner 2015 angeblich niemand „Je suis Charlie“skandierte. Diesen Riss durch Frankreich – das sei hier ohne Wortspiel gesagt – kennt Sourisseau besser als die Plenels oder Le Pens, er selbst stammt aus Melun in der Pariser Banlieue. Er sieht auch, dass sich in diesen Tagen wieder Messeratta­cken geistig Gestörter häufen, die sich als Solo-Jihadisten sehen.

Sonderbar. Steigt vor dem fünften Jahrestag etwa die symbolisch­e, bis heute nicht bewältigte Gewalt des Charlie-Massakers aus den Untergründ­en der französisc­hen Gesellscha­ft hoch? In den letzten fünf Jahren hat sich die Bedrohung nicht verflüchti­gt. Soldaten mit vorgehängt­em Gewehr gehören zum Alltagsbil­d französisc­her Stadtzentr­en. Verändert hat sich nur, dass die „union sacrée“, die nationale Allianz hinter Charlie, zerbrochen ist.

Im Mai beginnt in Paris ein Prozess gegen die Komplizen der getöteten Attentäter der Charlie-Redaktion und eines zwei Tage später attackiert­en jüdischen Supermarkt­es. Riss sagt zur Causa wenig. Nur dass er schon froh wäre, wenn er wieder einmal die Pariser Metro benützen könnte.

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