Fünf Jahre nach „Charlie Hebdo“ist die Allianz zerbrochen
Die Rufe „Je suis Charlie“sind längst verklungen – Die Diskussion über den Umgang mit Radikalismus bleibt
Wenn Blicke töten könnten, wäre Laurent Sourisseau alias Riss wohl nicht mehr am Leben. „Wir schauten uns in die Augen“, beschreibt er die Szene, als die Gebrüder Kouachi mit ihren Kalaschnikows mitten in die Redaktionssitzung platzten. „Eine Sekunde lang, vielleicht zwei.“Der Attentäter schien überrascht, in dem kleinen Raum so viele Leute vorzufinden. „Sein Staunen wurde aber gleich von seiner Aufgabe weggewischt: Er sollte töten.“
Riss tauchte reflexartig ab. Unter dem Tisch vergrub er den Kopf in den Armen. Ein Schuss traf ihn in die Schulter, aber er überlebte. Anders als zwölf Freunde – darunter fünf Karikaturisten, ein Polizist, eine Chronistin, ein Korrektor: Sie alle wurden Opfer der Attacke von Einer Minute und 49 Sekunden, wie der Titel von Riss’ Werk lautet.
Heute setzt sich der Charlie HebdoZeichner mit übereinandergelegten Händen an den Tisch, verbergend, dass er den rechten Arm nicht mehr heben kann. Noch am Nachmittag vor fünf Jahren war er überzeugt, dass ihn die Terroristen wegen seiner Mohammed-Karikaturen im Spital aufspüren würden, um ihr Werk zu vollenden.
Gestützt von einer Massendemo und dem Solidaritätsslogan „Je suis Charlie“machte das Magazin weiter. An den von der
Polizei bewachten Redaktionssitzungen waren sie aber laut Riss gelegentlich nur noch zu zweit. „Zwei lebend Begrabene.“
Aber eben: lebend. „Man versucht, sich nicht überwältigen zu lassen, kein Gefangener dieses Ereignisses zu sein“, sagt der damalige Zeichner und heutige Chefredakteur. Das Gleiche gilt für das Blatt mit einer aktuellen Auflage von 55.000 (20.000 mehr als vorher). So wie Riss gerne ohne Polizeibegleiter ausgehen würde, wäre das Blatt gerne wieder ein normales Satiremagazin. Provokativ, unflätig: Mit der grauslichen Zeichnung des ertrunkenen Migranten Alan Kurdi trat Riss noch im Jahr des Attentates eine neue Polemik los.
Keine Mohammed-Karikaturen
Mohammed lässt er hingegen links liegen. Nicht aus Feigheit: Der 53-jährige Sohn eines Bestattungsarbeiters macht keine Konzessionen; aber er will loskommen vom Opferstatus und auch vom Image eines Anti-Islamisten-Magazins. Lieber verteidigt er einen bekannten TV-Mann, der wegen eines groben sexistischen Witzes entlassen worden ist. „Bürger werden wie kleine Kinder bestraft, nur weil sie Schimpfwörter verwenden“, ärgert sich Riss.
Ohne verbale Zurückhaltung poltert er gegen jene Linken, die ihm Islamfeindlichkeit unterstellen, wenn nicht Rassismus. Als „Kollabos“beschimpft er sie – Komplizen der Terroristen. Er selbst, der Überlebende, kennt keine Nachsicht. Riss zeichnet Mohammed-Karikaturen nur noch, „wenn nötig“; umso mehr drischt er auf die angeblich naiven Vertreter einer wohlmeinenden Laizität ein – Politiker, die aus seiner Sicht die Augen verschließen vor dem, was in den Banlieue-Vierteln passiert. Dort, wo am 7. Jänner 2015 angeblich niemand „Je suis Charlie“skandierte. Diesen Riss durch Frankreich – das sei hier ohne Wortspiel gesagt – kennt Sourisseau besser als die Plenels oder Le Pens, er selbst stammt aus Melun in der Pariser Banlieue. Er sieht auch, dass sich in diesen Tagen wieder Messerattacken geistig Gestörter häufen, die sich als Solo-Jihadisten sehen.
Sonderbar. Steigt vor dem fünften Jahrestag etwa die symbolische, bis heute nicht bewältigte Gewalt des Charlie-Massakers aus den Untergründen der französischen Gesellschaft hoch? In den letzten fünf Jahren hat sich die Bedrohung nicht verflüchtigt. Soldaten mit vorgehängtem Gewehr gehören zum Alltagsbild französischer Stadtzentren. Verändert hat sich nur, dass die „union sacrée“, die nationale Allianz hinter Charlie, zerbrochen ist.
Im Mai beginnt in Paris ein Prozess gegen die Komplizen der getöteten Attentäter der Charlie-Redaktion und eines zwei Tage später attackierten jüdischen Supermarktes. Riss sagt zur Causa wenig. Nur dass er schon froh wäre, wenn er wieder einmal die Pariser Metro benützen könnte.