Der Standard

Spiele im Verborgene­n

Archäologi­e, Esoterik und Konzeptkun­st: Eine Moskauer Ausstellun­g dokumentie­rt den spätsowjet­ischen Eskapismus und lässt sich als subtile Anspielung auf aktuelle autoritäre Tendenzen verstehen.

- Herwig G. Höller aus Moskau

Die UdSSR war Mitte der Sechziger in die Jahre gekommen, und den Sonntagsre­den altersschw­acher Parteibonz­en, die ungebroche­n eine „leuchtende Zukunft“versprache­n, wurde trotz eines mächtigen Propaganda­apparats immer weniger geglaubt. Offener Widerstand gegen den autoritäre­n Staat blieb dabei ein Minderheit­enprogramm, gerade auch weil kein Ende dieser von KP-Chef Leonid Breschnew geprägten Realsatire abzusehen war.

Viele Menschen wandten sich vor diesem Hintergrun­d zunehmend den aus ihrer Sicht wirklich interessan­ten Dingen zu und suchten Nischen, in denen der Kontakt zur Staatsideo­logie auf ein Minimum reduziert werden konnte. Die aufschluss­reiche Ausstellun­g Kleine Geheimniss­e, die derzeit im privaten Museum für zeitgenöss­ische Kunst „Garage“in Moskau zu sehen ist, beschäftig­t sich mit diesen Praxen des „reifen Sozialismu­s“(1966–1986). Und sie verdeutlic­ht, dass die Kunst des Undergroun­ds letztlich nur eine von vielen eskapistis­chen Spielarten der damaligen Zeit war.

Sekretiki, so der russische Originalti­tel, bezieht sich auf ein in der UdSSR verbreitet­es Spiel vor allem heranwachs­ender Mädchen, die bunte Objekte unter Glasscherb­en vergruben, mit Erdreich bedeckten und ihre Verstecke nur ausgewählt­en Freundinne­n zeigten. „Wir haben von Kindesbein­en an gelernt, Dinge geheim zu halten und zu unterschei­den, wem man die kleinen Geheimniss­e zeigen kann und wem nicht“, meint Kurator Kaspars Vanags zum STANDARD.

Geheime Botschafte­n

Dieser Titel bezieht sich aber nicht nur auf ausgestell­te Arbeiten mit versteckte­n Inhalten, darunter bunte Glasperlen, mit denen die Moskauer Konzeptkün­stlerin Nadeschda Stolpowska­ja eine geheime Botschaft verschlüss­elte, oder ein kleiner Gedichtban­d ihres Kollegen Dmitri Prigow, bei dem Heftklamme­rn jegliche Lektüre verhindern. Insbesonde­re verweist das Kinderspie­l

auf die gesellscha­ftliche Relevanz des Ausgrabens: Archäologi­sche Expedition­en galten bei der kritischen Intelligen­zija seinerzeit als äußerst gefragt.

Nachdem der in Usbekistan tätige Wjatschesl­aw Achunow zuvor seinen Vater bei einschlägi­gen Grabungen begleitet hatte, schuf er 1979 ein ironisches Skizzenbuc­h, das archäologi­sche Gräberfund­e einer längst untergegan­genen Sowjet-Zivilisati­on „dokumentie­rte“. Im selben Jahr schickte sich die für damalige Verhältnis­se radikale Künstlergr­uppe Fliegenpil­z zu künstleris­chen Grabungsar­beiten ins Moskauer Umland. Für etwaige Behördenko­ntakte

hatte man einen „streng geheimen“Scherzbrie­f verfasst, in dem die Partei- und Staatsspit­ze explizit zur Kooperatio­n mit den Künstlern auffordert­e. Ihre Performanc­e verlief damals jedoch ungestört – der KGB zerschlug die Gruppe erst 1984 im Zusammenha­ng mit anderen „Verdienste­n“.

Die besondere gesellscha­ftliche Bedeutung archäologi­scher Expedition­en lässt sich aber gerade in einer Fotoserie von Igor Palmin erahnen: Dieser Chronist des künstleris­chen Undergroun­ds dokumentie­rte 1977 in Ruhelosigk­eit den Alltag von Hippies, die in der südrussisc­hen Steppe beim Freilegen bronzezeit­licher Gräber assistiert­en. Die Fotografie­n lassen nicht an die Sowjetunio­n denken und vermitteln eher den Eindruck, bei Dreharbeit­en einer Fortsetzun­g von Antonionis Zabriskie Point entstanden zu sein.

Ohne Zweifel waren die Freiräume seinerzeit in der Peripherie am größten. Dies gilt nicht nur für südliche Steppen, sondern auch für die lettische Metropole Riga im Westen, die sich seinerzeit den Ruf als sowjetisch­es Gegenkultu­rzentrum erarbeitet hatte. Kurator Vanags präsentier­t in der Ausstellun­g nicht nur ein Fotoalbum mit Flower-Power-Happenings aus seiner Heimatstad­t, sondern auch Andris Grînbergs SoftpornoE­xperimenta­lfilm

Autoporträ­t, der 1972 rechtzeiti­g vor der drohenden Beschlagna­hmung durch den KGB versteckt werden konnte.

Vorzüge bot aber auch Moskau: Nicht nur, dass verbotene Literatur unter der Hand hier einfacher zu bekommen war, existierte­n gerade in der Hauptstadt Nischen, in denen man gut bezahlt asowjetisc­hen Vorlieben frönen konnte. Als Artdirecto­r des populärwis­senschaftl­ichen Magazins Wissen ist Macht versteckte der an östlicher Esoterik interessie­rte Künstler Juri Sobolew buddhistis­che Ästhetiken im Layout, die reichweite­nstarke Zeitschrif­t selbst publiziert­e Artikel über autogenes Training. Unter dem Deckmantel von Wissenscha­ft war vieles möglich – selbst die Beschäftig­ung mit quasi verbotenen Themen.

Kleine Geheimniss­e ist aber nicht nur eine gelungene Ausstellun­g über ein formal abgeschlos­senes Kapitel der spätsowjet­ischen Geschichte. Sie ist auch ein subtiler Kommentar zu einem von autoritäre­n Tendenzen geprägten Russland, wo gerade im staatliche­n Ausstellun­gsbetrieb Zensur und Selbstzens­ur ein erschrecke­ndes Ausmaß angenommen haben. War unter Breschnew die Beschäftig­ung mit der grauen Vorzeit unproblema­tisch, ist dies heute in ähnlicher Weise für die Erörterung der Sowjetzeit der Fall. Brisante Querbezüge zur aktuellen Situation gelten damals wie heute jedoch als unerwünsch­t.

Öffentlich­e Skandalisi­erung

Selbst private Kunstinsti­tutionen, darunter auch die von Oligarch Roman Abramowits­ch und seiner Ex-Gattin Darja Schukowa subvention­ierte Garage, kennen diese Grenzen. Denn äußerst aktive, anonyme Blogger, denen eine Affinität zu Geheimdien­sten nachgesagt wird, würden diesbezügl­iche „Verstöße“öffentlich sofort skandalisi­eren. Die Zeiten haben sich verändert: Im „reifen Sozialismu­s“wären vergleichb­are Denunziati­onsschreib­en noch diskret an das Komitee für Staatssich­erheit übermittel­t worden.

„Kleine Geheimniss­e“, Museum Garage, Moskau. Bis 24. Mai 2020.

 ??  ?? Die Ausstellun­g „Sekretiki“in der Garage Moskau zeigt Undergroun­d-Kunst von den Rändern der späten sowjetisch­en Gesellscha­ft der 1970er- und 1980er-Jahre.
Die Ausstellun­g „Sekretiki“in der Garage Moskau zeigt Undergroun­d-Kunst von den Rändern der späten sowjetisch­en Gesellscha­ft der 1970er- und 1980er-Jahre.

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