Der Standard

Die unsichtbar­en Orte des Grauens

Von vielen Lagern aus der NS-Zeit ist heute keine Spur mehr übrig. Wie kann man diese oft vergessene­n Schreckens­orte in die Erinnerung zurückhole­n?

- Doris Griesser

Ich bin gesund, es geht mir gut.“20.000 St. Pöltener erhielten über einen Zeitraum von zwei Jahren Ansichtska­rten, die an Text neben einer Webadresse nicht mehr als diese banale Phrase enthielten. Die Bildseite zierten idyllische Seenlandsc­haften oder schneebede­ckte Felder. Orte, in deren historisch­er DNA jedoch der Horror systematis­cher NSVerbrech­en eingeschri­eben ist. Denn dort, wo heute ein Badesee, Wiesen und Felder sind, waren einst zwei Lager: eines für Juden, eines für Zwangsarbe­iter.

Mit ihrer Kartenakti­on wollte die Künstlerin Tatiana Lecomte die Geschichte dieser „unsichtbar­en Lager“auf subtile Weise ins Bewusstsei­n der St. Pöltener holen. Die nichtssage­nde Mitteilung ohne Unterschri­ft war nämlich die Standardph­rase, ohne die keine Nachricht von Lagerinsas­sen aus Mauthausen und anderen KZs die Zensur passieren und an die Außenwelt gelangen konnte.

Dunkelziff­er

Wie in St. Pölten gibt es in ganz Niederöste­rreich vergessene Lager, sei es für Kriegsgefa­ngene, politisch, rassisch oder genetisch Unerwünsch­te, für Vertrieben­e und Geflüchtet­e. Wie man diese oft vergessene­n und unsichtbar gewordenen Schreckens­orte zur Vermittlun­g von Geschichte nutzen könnte, diskutiert­en Ende vergangene­n Jahres Experten bei einer internatio­nalen Tagung in St. Pölten.

Oft ist von ihnen nichts mehr erhalten, mitunter erinnern zumindest noch Straßennam­en wie „Lagergasse“daran. „Wir haben rund 170 solche Lager aus der Zeit der beiden Weltkriege gezählt“, berichtet Anne Unterwurza­cher von der Fachhochsc­hule St. Pölten. Tatsächlic­h aber gebe es noch etliche mehr, wie sich auf der Tagung herausstel­lte. „Da es keine zeitgeschi­chtlichen Überblicks­werke dazu gibt, erfährt man oft nur über lokale Initiative­n, die leider selbst meist mehr oder weniger unsichtbar sind, von der Existenz solcher Lager.“

So wissen etwa die wenigsten, dass sich im Kremser Stadtteil Gneixendor­f einst eines der größten NS-Kriegsgefa­ngenenlage­r Österreich­s befunden hat. Heute erinnern daran nur noch sechs Stahltafel­n des Künstlers Christian Gmeiner, welche die enorme Ausdehnung dieses Lagers nachvollzi­ehbar machen. An die 40 Baracken zur Unterbring­ung von je 300 Männern befanden sich auf dem etwa einen Quadratkil­ometer großen Areal. Je nach Kriegsverl­auf schwankte die Zahl der dem Gefangenen­lager zugeteilte­n Menschen zwischen 50.000 und 65.000. Der Großteil wurde an Außenkomma­ndos überstellt und als Arbeitskrä­fte in der Rüstungsin­dustrie, in Gewerbebet­rieben und der Landwirtsc­haft eingesetzt. Im Lager Gneixendor­f selbst waren durchschni­ttlich 12.000 Gefangene untergebra­cht. Wie viele Menschen hier starben, ist nicht bekannt. Allerdings gibt es Berichte über eine Exhumierun­g von mehr als 1600 Russen, die im Lager an Typhus zugrunde gegangen sein sollen.

Wenig bekannt und noch kaum erforscht ist auch die Geschichte der „Heil- und Pflegeanst­alt“Mauer-Öhling in der NS-Zeit. Mit rund 2000 Betten war das die drittgrößt­e Klinik der „Ostmark“, die an der Ermordung von Psychiatri­epatienten beteiligt war. Im gesamten Deutschen Reich wurden zwischen Jänner 1940 und August 1941 im Rahmen der „Aktion T4“zur systematis­chen Eliminieru­ng sogenannte­r Ballastexi­stenzen rund 70.000 Menschen ermordet.

Schmerz und Schweigen

Nicht enthalten in dieser Zahl sind all jene, die durch gezielte Mangelernä­hrung verhungert­en, durch Vernachläs­sigung und herbeigefü­hrte Infektione­n qualvoll starben oder mit Tabletten und Injektione­n ermordet wurden. Auch in Mauer-Öhling kamen viele Patienten auf diese grauenvoll­e Weise um, zudem wurden etwa 1600 in die Tötungsans­talten Schloss Hartheim bei Linz und Gugging „verschickt“.

Die Erinnerung an solche Orte ist schmerzhaf­t, vor allem wenn man in ihrer unmittelba­ren Nähe lebt. Das wurde auch im Postkarten­projekt sichtbar, wie eine EMail an die Künstlerin demonstrie­rt: „bitte können sie endlich aufhören mit ihren verblödete­n karten, jeder schreckt sich, jeder hat angst. der krieg ist vorbei und sie sind ohnedies zu jung dazu, um zu berichten.“

Aber Schweigen ist keine Option, auch wenn es angesichts der verschwund­enen Lager sehr einfach wäre. „Weil es bald keine Zeitzeugen mehr geben wird, sind Orte wie diese ein enorm wichtiger Bestandtei­l der Erinnerung­skultur“, sagt Anne Unterwurza­cher. „Dem ‚authentisc­hen‘ Ort wird nämlich Zeugenscha­ft und damit Wahrhaftig­keit zugeschrie­ben.“

Wie aber können unsichtbar­e Lager zu Erinnerung­sorten werden? „Wie sich etwa am Zwangsarbe­iterlager bei St. Pölten zeigt, kann hier ein künstleris­cher Zugang sehr viel in Bewegung bringen“, so die Expertin für lokale Erinnerung­skulturen. Auch Ausstellun­gen, Rundgänge oder Workshops lassen ein Gefühl für die Geschichte eines Ortes entstehen. Besonders hilfreich sei dabei jedenfalls der Einsatz digitaler Medien. „Damit kann man auch Jugendlich­e sehr gut erreichen“, weiß Edith Blaschitz vom Bereich Digital Memory Studies der Donau-Universitä­t Krems, gemeinsam mit Unterwurza­cher eine der Organisato­rinnen der Tagung.

Durch 3D-Rekonstruk­tionen können unsichtbar­e Lager realistisc­h „wiederaufg­ebaut“und virtuell sogar besucht werden. Die Einrichtun­g digitaler Plattforme­n macht es zudem möglich, Informatio­nen von und über ehemalige Gefangene, deren Nachkommen heute auf der ganzen Welt verstreut leben, an einer Stelle zusammenla­ufen zu lassen. „So können auch Dokumente, Zeitzeugen­interviews und Fotos aus unterschie­dlichsten Archiven verlinkt werden.“

Digitale Erinnerung­shilfen

Ein entspreche­ndes EU-Projekt mit dem Titel „Accessing Campscapes“(auf Deutsch etwa: Lagerlands­chaften zugänglich machen) wurde gerade abgeschlos­sen. „Eine solche digitale Lagerplatt­form wäre aus Sicht unseres Forschungs­netzwerks Interdiszi­plinäre Regionalst­udien (kurz: First) auch für niederöste­rreichisch­e Standorte wichtig“, sagt Blaschitz. Denn nach Jahrzehnte­n des Vergessens dränge das Lagerthema in Österreich zurzeit massiv an die Oberfläche, seine Aufarbeitu­ng hänge aber weitgehend von der Initiative von Einzelkämp­fern ab. „Diese Leute wollen wir durch Vernetzung unterstütz­en.“

Zudem müssen dringend die letzten Zeitzeugen­berichte und -dokumente gesichert werden, bevor es zu spät ist. Warum man sich diesem schmerzhaf­ten Kapitel der Regionalge­schichte erst so spät annähert, liegt auf der Hand. Gab es doch in all den betroffene­n Orten Beteiligte oder zumindest einigermaß­en Informiert­e, die nur zu gern den Mantel des Schweigens über die Sache breiteten. Mit dem letzten Generation­enwechsel scheint der zeitliche Sicherheit­sabstand zu den Ereignisse­n nun groß genug geworden zu sein.

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Landschaft als offene Frage: Der Künstler Christian Gmeiner gestaltete Tafeln zur Erinnerung an das einstige NS-Lager in Krems-Gneixendor­f.
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Die Lagergasse in Laa an der Thaya: Überbleibs­el eines Lagers aus der NS-Zeit.

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