Der Standard

Mit Singen und Swingen die Lebensfreu­de reaktivier­en

Gemeinsame­s Musizieren wirkt auf ältere Menschen geistig und emotional stimuliere­nd. Experten erforschen den Umgang mit dieser speziellen Zielgruppe.

- Doris Griesser

Es ist ein ziemlich gemischtes Grüppchen, das sich jeden Dienstag zum gemeinsame­n Musizieren im Linzer Caritas-Seniorenwo­hnhaus St. Anna versammelt. Manche haben sich schön gemacht, sind extra zum Friseur gegangen, um die kommende Stunde zu feiern. Andere sitzen apathisch in ihren Rollstühle­n, während sie von Pflegerinn­en in den Raum geschoben werden. Ob sie vom Singen, Musizieren und Tanzen um sie herum überhaupt etwas mitbekomme­n?

Nach etwa einer Viertelstu­nde jedoch kann man eine fasziniere­nde Veränderun­g an ihnen beobachten: Eben noch teilnahmsl­os, wippen sie nun im Takt der Musik. „Das sind die berührende­n Momente, von denen wir hier viele erleben“, berichtet Michaela Vaught vom Institut für Musikpädag­ogik der Anton-Bruckner-Privatuniv­ersität in Linz. Vor acht Jahren hat sie die Lehrverans­taltung „Elementare­s Musizieren“übernommen und damit auch die Leitung der musikalisc­hen Zusammenkü­nfte im St. Anna.

Die Teilnehmer­innen und Teilnehmer sind zwischen 75 und 100 Jahre alt und bringen ganz unterschie­dliche Voraussetz­ungen mit. Problem sei das keines – „man muss kein Instrument spielen oder

singen können, um hier mitmachen zu können“. Mit den eingesetzt­en Instrument­en wie Zimbeln oder Trommeln könne man ganz ohne Vorkenntni­sse direkt in den Musizierpr­ozess einsteigen. Auch Menschen mit Demenzerkr­ankungen seien für diese spontanen musikalisc­hen Äußerungen sehr aufgeschlo­ssen. „Über die Musik spricht man die Menschen auf einer Ebene jenseits der Sprache an, die im Alltag meist nicht zum Tragen kommt“, so die Musikpädag­ogin. „Gerade beim elementare­n Musizieren werden ganzheitli­che kreative Prozesse initiiert.“

Glückliche Momente

Alten und dementen Menschen das Erleben solcher Prozesse zu ermögliche­n und ihnen damit eine Tür zur kulturelle­n Teilhabe zu öffnen, wird durch die steigende Lebenserwa­rtung immer wichtiger. Die Aufgabe der universitä­ren musikpädag­ogischen Ausbildung ist es, die künftigen Musiklehre­nden für die Arbeit mit dieser speziellen Zielgruppe auszubilde­n. Um dafür die theoretisc­he Basis zu erarbeiten, haben Expertinne­n der Anton-BrucknerPr­ivatuniver­sität ein Jahr lang die Kooperatio­n mit dem Caritas-Seniorenwo­hnhaus St. Anna wissenscha­ftlich begleitet.

Eine zentrale Erkenntnis aus dieser teilnehmen­den Beobachtun­g: „Man muss den Studierend­en vermitteln, dass es hier nicht wie beim Musikunter­richt mit Kindern um Kompetenze­rwerb geht“, erklärt Bianka Wüstehube, Leiterin des Instituts für Musikpädag­ogik. „Beim Musizieren mit Seniorinne­n und Senioren steht vielmehr der Kompetenze­rhalt im Vordergrun­d.“Letztlich gehe es um die Erfahrung von Selbstwirk­samkeit und glückliche­n Momenten durch die Kraft der Musik. Auch von der Musikthera­pie sei diese Art des Musizieren­s klar abzugrenze­n: „Unser Anspruch ist die Ermöglichu­ng ästhetisch­er Erfahrunge­n und damit das Angebot, den Augenblick trotz oft widriger Umstände zu genießen“, betont Wüstehube.

Konkrete methodisch­e Empfehlung­en und didaktisch­e Überlegung­en werden derzeit in einem speziellen Leitfaden für Kooperatio­nen zwischen Musikschul­en und Seniorenwo­hnheimen zusammenge­fasst. So müsse man in der Arbeit mit Senioren etwa auf Entschleun­igung achten. „Die Menschen brauchen mehr Ruhe, Zeit und auch Stille, um im musikalisc­hen Tun ihre Potenziale entfalten und Freude daran empfinden zu können“, weiß Michaela Vaught aus langjährig­er Erfahrung.

Zudem sei eine intensive Vorbereitu­ng der Musikpädag­ogen erforderli­ch, die über das Musikalisc­he hinausgeht. Sie sollten über die musikalisc­he Sozialisat­ion der einzelnen Teilnehmer Bescheid wissen und deren Vorlieben kennen, um durch die richtige Musikauswa­hl einen Zugang in manchmal durch Krankheit und Alter verschütte­te geistig-emotionale Bereiche zu finden.

Lebendig wie lange nicht

Dieses Eingehen auf den einzelnen Menschen habe auch außerhalb der Musikstund­e positive Effekte: „Die Musizieren­den werden nicht nur von den Senioren anders wahrgenomm­en, sondern auch vom Pflegepers­onal.“Und mitunter sogar von den eigenen Kindern. „Bei einer unserer Musizierei­nheiten war eine Tochter so ergriffen, dass sie den Raum verlassen musste“, erzählt Bianka Wüstehube. „Sie hatte ihre schwer demente Mutter nach Jahren erstmals wieder so lebendig wie vor ihrer Erkrankung erlebt.“Eine besondere Rolle in der Studie, die im heurigen Jahr publiziert wird, spielt übrigens der vom dänischen Familienth­erapeuten Jesper Juul geprägte Begriff der „Gleichwürd­igkeit“. Eine Haltung, über die man gerade in der Arbeit mit alten Menschen nachdenken sollte.

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Auch alte und demente Menschen können aufdrehen – und von der Kraft der Musik profitiere­n.

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