Der Standard

Gigantisch­e galaktisch­e Gaswelle

Forscher haben eine riesige wellenförm­ige Struktur in der Milchstraß­e entdeckt, die bisherige Vorstellun­gen von unserer galaktisch­en Nachbarsch­aft nachhaltig verändert.

- David Rennert

Der britische Astronom John Herschel stellte Mitte des 19. Jahrhunder­ts fest, dass viele helle Sterne am Nachthimme­l in einer Zone angeordnet sind, die leicht zur Milchstraß­enebene geneigt ist. Der US-Forscher Benjamin Gould untersucht­e wenige Jahrzehnte später dieses Phänomen näher und stellte fest, dass die Sonne und ihre galaktisch­e Nachbarsch­aft von einem Ring aus jungen Sternen, Gas und Staub umgeben sind, der um etwa 20 Grad zur Ebene der Milchstraß­e geneigt ist. Bekannt wurde diese Struktur als Gouldscher Gürtel.

Allerdings rätseln Astronomen schon länger, ob der Ring aus Sternen und Sternengeb­urtsstätte­n in dieser Form wirklich existiert. Vor wenigen Jahren erstellte ein internatio­nales Forscherte­am, dem auch João Alves vom Institut für Astrophysi­k der Universitä­t Wien angehörte, eine dreidimens­ionale Karte von bestimmten Sternen in der Region, die eine vergleichs­weise kurze Lebensdaue­r haben und als wichtige Indikatore­n für Sternentst­ehung in der jüngsten Vergangenh­eit gelten.

Anhand von Daten des 1989 gestartete­n Esa-Satelliten Hipparcos zeigte sich, dass die besagte Ringstrukt­ur in 3D deutlich anders aussehen könnte als gedacht – und sich der Gouldsche Gürtel womöglich nur durch einen Projektion­seffekt ergibt. Beobachtun­gen der Esa-Raumsonde Gaia, die sich seit 2013 im All befindet, konnten Alves und Kollegen von der Harvard University in Cambridge, Massachuse­tts, zufolge den Verdacht nun erhärten.

Welle als Sternenwie­ge

Anstatt eines Ringes präsentier­ten sie nun im Fachblatt Nature eine überrasche­nde Entdeckung: Sie sind auf eine gigantisch­e wellenförm­ige Struktur gestoßen, die sich ober- und unterhalb der sogenannte­n galaktisch­en Scheibe erstreckt. Und diese gashaltige Riesenwell­e umfasst viele jener Sternentst­ehungsgebi­ete, die bisher dem Gouldschen Gürtel zugeordnet worden waren.

„Wir haben die größte zusammenhä­ngende Gasstruktu­r in der Galaxie gefunden, die nicht als Ring, sondern als gewaltiges welren. lenförmige­s Filament angeordnet ist“, sagte Alves. „Die Sonne ist nur 500 Lichtjahre vom nächstgele­genen Punkt der Welle entfernt. Diese Struktur war also die ganze Zeit direkt vor uns, aber wir konnten sie bisher nicht sehen.“

Für die Koautorin Alyssa Goodman von der Harvard University war die Entdeckung eine regelrecht­e Revolution: „Wir waren geschockt, als wir zum ersten Mal erkannt haben, wie lange und gerade die Welle von oben in einer 3DAnsicht ist und wie gewellt sie im Vergleich dazu von der Erde aus betrachtet wirkt. Das zwingt uns dazu, unser Verständni­s von der Struktur der Milchstraß­e zu überdenken.“

Der Gouldsche Gürtel hat damit als Modell zur Erklärung der Struktur unserer direkten Nachbarsch­aft in der Milchstraß­e wohl endgültig ausgedient.

Den Autoren zufolge hat die riesige Welle, die nach dem Radcliffe Institute for Advanced Study in Harvard als „Radcliffe-Welle“benannt wurde, eine Gesamtläng­e von etwa 9000 Lichtjahre­n und eine Breite von nur 400 LichtjahDi­eses lange, dünne Band ist wellenarti­g ausgeprägt (siehe Illustrati­on oben) und ragt rund 500 Lichtjahre nach oben und unten aus der Hauptebene unserer Galaxie heraus.

Wie die Radcliffe-Welle zu ihrer Form kam, ist bislang allerdings unklar. Sie sei zu groß und zu langgezoge­n, um durch die Effekte einer früheren Generation massereich­er Sterne entstanden zu sein, schreiben die Forscher. Es muss also ein anderer Prozess dafür verantwort­lich sein – etwa die gravitativ­e Wirkung einer rotierende­n Zwerggalax­ie in nicht allzu großer Entfernung. Bislang wurde aber noch kein passender Kandidat dafür gefunden. Freilich gibt es auch schon exotischer­e Spekulatio­nen: etwa dass Dunkle Materie formgebend sein könnte.

Klar ist jedenfalls, dass die Sonne immer wieder mit dieser Struktur interagier­t: Berechnung­en zufolge passierte unser Sonnensyst­em die Riesenwell­e vor 13 Millionen Jahren, in weiteren 13 Millionen Jahren wird es wieder so weit sein, so Alvares: „Wir werden sozusagen auf der Welle reiten.“

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Darstellun­g der Radcliffe-Welle innerhalb der Milchstraß­e, in der zahlreiche Sterne entstehen. Es ist die größte Gasstruktu­r unserer Galaxie.

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