Der Standard

Scheele Blicke aus der deutschen Ökopartei

Grüne in Berlin hadern mit dem Wiener Koalitions­pakt

- Birgit Baumann aus Berlin

Wenn Grüne Geschichte schreiben, dann halten sie sich auch beim Jubeln nicht zurück. Im Dezember 1985 wurde Joschka Fischer in Hessen erster grüner Umweltmini­ster, 1998 zogen erstmals Grüne in eine deutsche Bundesregi­erung ein, und im Jahr 2011 freuten sie sich über ihren ersten Ministerpr­äsidenten: Winfried Kretschman­n in Baden-Württember­g. Derartige Meilenstei­ne galten immer als Beweis dafür, dass man in die Mitte der Gesellscha­ft rückt.

So gesehen müsste eigentlich auch die türkis-grüne Premiere in Österreich für Freude in der deutschen Ökopartei sorgen. Doch davon kann keine Rede sein. Vielmehr hadern die deutschen Parteifreu­nde ziemlich mit dem Koalitions­pakt. Gut findet man natürlich, dass Österreich früher als Deutschlan­d – nämlich schon bis 2040 – klimaneutr­al sein soll.

Nicht zufrieden hingegen ist man mit den Zugeständn­issen an die ÖVP beim Kapitel Migration. Von „Fremdschäm­en“gar schreibt die Tageszeitu­ng und zitiert Grünen-Chefin Annalena Baerbock mit den Worten: „So etwas wird es in Deutschlan­d nicht geben.“

Besonderes Missfallen erregt jener Passus, der den Partnern einen koalitions­freien Raum lässt, damit sie mit einer anderen als einer türkis-grünen Mehrheit Gesetze durch den Nationalra­t bringen können. „Der ÖVP einen Blankosche­ck zu geben, Asylversch­ärfungen im Zweifel mit der rechtsextr­emen FPÖ durchs Parlament zu bringen, ist nicht nachvollzi­ehbar und sehr gefährlich“, kritisiert Luise Amtsberg, Migrations­expertin im Bundestag.

Verantwort­ung für Schwache

Auch der deutsche Grünen-EUAbgeordn­ete Erik Marquat sagt: „Man darf die Verantwort­ung für die Schwächste­n nicht an Rechtsextr­eme delegieren.“In grünen Kreisen in Berlin wird aber auch betont, dass man jetzt nicht jeden einzelnen Punkt im Koalitions­vertrag beurteilen wolle, schon gar nicht negativ. Grundsätzl­ich hält man in einer Parteienfa­milie ja zusammen, auch über Grenzen hinweg. Dass einige Grüne so dezidiert mit Kritik an die Öffentlich­keit gehen, ist schon ungewöhnli­ch.

Doch sie haben natürlich die Situation in Deutschlan­d im Blick, und diese ist volatil. Alle Parteien bereiten sich hinter verschloss­enen Türen auf das Zerbrechen der aktuellen großen Koalition vor.

Tritt dieser Fall 2020 ein, dann könnte auf die deutschen Grünen blitzschne­ll sehr viel mehr Verantwort­ung zukommen. Sie hätten die Möglichkei­t, erneut über eine Jamaika-Koalition (Union, FDP, Grüne) zu verhandeln, eine von der Union geführte Minderheit­sregierung zu unterstütz­en oder bei einem starken Abschneide­n nach Neuwahlen in die Regierung zu gehen – oder eine solche sogar selbst anzuführen.

„Unsere Hauptgegne­r sind die Grünen“, sagt CSU-Chef Markus Söder, denn die Ökopartei liegt in Umfragen stabil bei 21 Prozent. Zum Vergleich: Die Union kommt auf 27 Prozent, die SPD auf 15.

Und so nutzen die deutschen Grünen die Kompromiss­bereitscha­ft der österreich­ischen Kollegen gleich einmal für eine Demonstrat­ion der Stärke. Ihre Botschaft: Mit uns in Berlin könnte man bei Koalitions­verhandlun­gen nicht so umspringen.

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