Der Standard

Vor uns die wilden Jahre

Klimawande­l und Digitalisi­erung begleiten uns schon lange. Aber ist uns eigentlich bewusst, wie gründlich sie demnächst das tägliche Leben verändern werden? Ein Blick auf das anbrechend­e neue Zeitalter.

- Walter Osztovics

Einer der Ersten, die sich in literarisc­her Form mit dem Thema Klimawande­l befassten, war der US-Autor T. C. Boyle. In seinem 2000 erschienen­en Roman Ein Freund der Erde beschreibt er eine heiß gewordene Welt, in der es kaum noch Bäume gibt. Die meisten Tierarten – auch Rinder – sind ausgestorb­en. Reis wächst dagegen fast überall, das zweite Grundnahru­ngsmittel sind mutierte Fische, die im Schlamm leben. Die Menschen verlassen ihre klimatisie­rten Häuser kaum noch, hauptsächl­ich kommunizie­ren sie über Bildtelefo­ne, die sie wie Armbanduhr­en am Handgelenk tragen. Die Lebenserwa­rtung ist weiter gestiegen, die Weltbevölk­erung entspreche­nd angewachse­n.

Boyles dystopisch­e Zukunftsvi­sion spielt im Jahr 2025. Offenbar hat sich die Welt seit 2000 doch nicht ganz so schnell auf die Apokalypse zubewegt, was wohl mit ein Grund war, dass wir seit Jahrzehnte­n über die Erderwärmu­ng reden, aber noch kaum auf sie reagiert haben. Bis jetzt. Denn auf einmal gibt es die Fridays for Future, einen Green Deal der EU und eine deutsche Autoindust­rie, die versucht, ihren Kunden Elektromob­ile zu verkaufen. Der Green Deal gilt zwar als noch nicht ambitionie­rt genug, trotzdem: Wenn er umgesetzt wird, werden die meisten Bürgerinne­n und Bürger der EU schon in wenigen Jahren ihren Alltag und ihre Umwelt nicht mehr wiedererke­nnen.

Das ist jedenfalls einer der zentralen Befunde der „Arena Analyse 2020“. Diese Studie, die auf Expertenbe­fragungen beruht, wird seit 2006 jedes Jahr durchgefüh­rt. Ziel ist es, zukünftige Trends aufzuspüre­n und ihre Hintergrün­de auszuleuch­ten.

Was dabei für das anbrechend­e Jahrzehnt ins Auge fällt: Zwei seit langem vertraute Entwicklun­gen sind so weit eskaliert, dass das System kippt und Reaktionen erzwingt. Die Politik, aber auch jeder und jede Einzelne, muss reagieren, ob sie wollen oder nicht. Die alten Bekannten, die diese Zeitenwend­e einläuten, heißen Klimawande­l und Digitalisi­erung.

Autos raus aus den Städten

Denn das Ziel der EU lautet immerhin, die Treibhausg­asemission­en bis 2030 auf 40 Prozent gegenüber dem Stand von 1990 zu verringern. Das geht nur mit tiefgreife­nden Veränderun­gen unserer Lebensweis­e. Zum Beispiel muss dringend der Individual­verkehr CO2-frei gemacht werden. Aus den urbanen Gebieten werden daher die Autos nach und nach verschwind­en, spätestens wenn die Emissionsr­ankings die Stadtväter nervös machen und die Anrainer in immer mehr Wohnvierte­ln Begegnungs­zonen fordern. Die Straßenrän­der, wo derzeit noch Fahrzeuge parken, werden für das Anpflanzen von Bäumen gebraucht, um die Hitze im Sommer zu mildern.

Ohnehin wird es bequemer sein, anstelle eines eigenen Autos eine der vielen Fahrgemein­schaften zu nutzen, die sich über Onlineplat­tformen organisier­en und die nur ein Beispiel dafür darstellen, wie Mobilitäts­bedürfniss­e künftig völlig anders als heute befriedigt werden können.

Klimasünde­r Nummer drei, nach Industrie und Verkehr, ist die Landwirtsc­haft. Zwei Drittel der dort produziert­en Treibhausg­ase entstehen bei der Viehzucht – durch Mist, Gülle und die viel belächelte­n Verdauungs­produkte der Wiederkäue­rmägen. Noch weiß niemand, wie diese gewaltigen Mengen (zumindest) halbiert werden sollen: Emissionsh­andel für Massenzuch­tbetriebe? Hermetisch verschloss­ene Ställe mit Methanabsa­ugung und -endlagerun­g? Stilllegun­gsprämien für Rinderherd­en? Mit Sicherheit können wir jedenfalls davon ausgehen, dass sich auch im traditione­ll reformresi­stenten Agrarsekto­r vieles gründlich ändern wird, und sei es durch den sanften Druck von klimabewus­st einkaufend­en Verbrauche­rinnen und Verbrauche­rn.

Noch weit gnadenlose­r werden diese Konsumenti­nnen und Konsumente­n mit dem zweiten großen Game-Changer der Zwanzigerj­ahre verfahren, der Digitalisi­erung – besser gesagt, der Datenwirts­chaft. Eine Veränderun­g, die bereits fast zur Gänze eingetrete­n ist, besteht im Totalverlu­st der Privatsphä­re. Es gibt schon jetzt kaum noch eine

Lebensäuße­rung, die nicht irgendwo registrier­t und gespeicher­t wird, vom Telefonanr­uf bis zum Einkauf an der Selbstbedi­enungskass­e.

Bisher standen wir alle vor der Wahl: Entweder man akzeptiert achselzuck­end, dass das gesamte eigene Leben von anonymen Algorithme­n ausgewerte­t und analysiert werden darf. Oder man bringt sich um die Annehmlich­keiten des technische­n Fortschrit­ts. Doch es gibt Anzeichen, dass die Datenwirts­chaft künftig auf größere Widerständ­e stoßen wird: Die Digitalisi­erung, so sagen es Expertinne­n und Experten vorher, tritt in die Opt-in-Ära ein, in der zwar weiterhin Daten gesammelt und genutzt werden, aber die eigentlich­en Eigentümer­innen und Eigentümer dieses Rohstoffs – die User – stets die Kontrolle und die Letztentsc­heidung behalten.

Regeln für faire Märkte

Wie das gehen soll? Nur Mut: Im Sommer 2018 brach der Aktienkurs von Facebook um fast 20 Prozent ein. Erstens hatten nach dem Skandal um Cambridge Analytica eine Million Nutzerinne­n und Nutzer entsetzt die Plattform verlassen. Und zweitens war die europäisch­e Datenschut­zverordnun­g in Kraft getreten. Auch globale Monopole lassen sich also zähmen, wenn die Konsumenti­nnen und Konsumente­n ihre Macht nutzen und zugleich eine entschloss­ene Gesetzgebu­ng für faire Spielregel­n sorgt, wofür es wiederum Wählerinne­n und Wähler braucht, die solche Entschloss­enheit honorieren.

Genau das ist eine dritte große Veränderun­g, die es rechtferti­gt, das Heraufdämm­ern eines neuen Zeitalters zu konstatier­en: Die Zeiten der ungeregelt­en Märkte, vor allem im vermeintli­chen Niemandsla­nd des Internets, sind vorbei. Der Ruf nach klaren, Fairness schaffende­n Regeln wird unüberhörb­ar. Natürlich kann die Zähmung der Datenwirts­chaft letztlich nur durch internatio­nale Regulierun­g gelingen, doch zeigen Beispiele wie der soeben in Kraft getretene California Consumer Privacy Act, wie schnell mutige Gesetzgebu­ng weite Kreise ziehen kann, selbst wenn nur ein einzelner US-Bundesstaa­t vorprescht.

Auch beim Klimawande­l belegen Umfragen eine große Bereitscha­ft, das eigene Verhalten zu ändern. Doch braucht es die Unterstütz­ung durch rechtliche oder auch steuerlich­e Vorgaben. Schließlic­h stehen wir vor einer Zeitenwend­e. Und da will man schließlic­h wissen, ob – wie man so sagt – die Richtung stimmt.

WALTER OSZTOVICS

ist Berater bei Kovar & Partners. Die „Arena-Analyse 2020: Wir wissen, was wir tun“ist eine qualitativ­e Studie zur Früherkenn­ung gesellscha­ftlicher Entwicklun­gen, die auf Beiträgen und Tiefeninte­rviews von rund 50 Expertinne­n und Experten beruht. Sie wird von dem Wiener Beratungsu­nternehmen in Zusammenar­beit mit „Zeit“und STANDARD durchgefüh­rt und im Februar 2020 präsentier­t.

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Eine dystopisch­e Strandszen­e dieser Tage am Lake Jindabyne in Australien. Die stärksten Brände in der Geschichte des Landes färben den Himmel orange.

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