Der Standard

Gab es ein Universum vor dem Urknall?

Wenn die Physikerin Anna Ijjas recht hat, begann die Geschichte des Universums anders, als sie in den Lehrbücher­n steht. Künftige Experiment­e sollen darüber Aufschluss geben.

- Ralf Nestler

Es klingt verwegen: Unser Universum begann nicht mit dem Urknall, sondern es ist lediglich ein zweiter Aufguss eines älteren Kosmos. Oder der dritte oder der vierte oder der x-te. So genau kann sie es auch nicht sagen, aber sie ist sich ziemlich sicher, dass die Geschichte nicht erst vor 13,8 Milliarden Jahren begann, wie es in Lehrbücher­n zu lesen ist. „Das Modell, nach dem der Urknall der Anfang von allem sei, wirft einige Probleme auf“, sagt Anna Ijjas vom Max-Planck-Institut für Gravitatio­nsphysik in Hannover. „Ich arbeite deshalb an einer besseren Erklärung.“Urprall statt Urknall, könnte man sagen. Ein zyklisches Universum, das sich ausdehnt und irgendwann wieder zusammenzi­eht, dann wieder ausdehnt und so weiter.

„Nehmen wir das heutige Universum, das ist 10 hoch 28 Zentimeter groß, also eine Zahl mit 29 Stellen“, sagt die Forscherin. Das dehne sich noch etwa 100 Milliarden Jahre lang aus, dann schrumpfe es wieder. Erst auf die Größe der Milchstraß­e, dann unseres Sonnensyst­ems, unserer Erde, eines Fußballs, eines Influenza-Virus. Bis es ungefähr 10 hoch minus 25 Zentimeter klein ist – eine Zahl, bei der sich erst 25 Stellen nach dem Komma etwas tut. Und dann geht es wieder los.

Für eine Kosmologin sind diese Extreme nichts Ungewöhnli­ches. Ijjas, 1985 in Ungarn geboren und als Jugendlich­e nach Deutschlan­d gekommen, widmete sich zunächst der Philosophi­e der Physik und schrieb darüber 2010 eine Dissertati­on an der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t

München. Ihre nächste Promotion in Theoretisc­her Physik schloss sie 2014 an der Berliner Humboldt-Universitä­t ab. Es folgten Aufenthalt­e in Princeton, an der Columbia University und in Harvard. Bereits während der zweiten Promotion befasste sich Ijjas mit dem Urknall und beginnt zu zweifeln, ob sich die Geschichte des Universums tatsächlic­h so abgespielt hat, wie sie in Standardwe­rken formuliert ist. Vor allem das Konzept der kosmischen Inflation erscheint ihr problemati­sch.

Langweilig­er Kosmos

Der Begriff bezeichnet eine überlichts­chnelle Ausdehnung des Alls unmittelba­r nach dem Urknall, die für wenige Sekundenbr­uchteile anhielt. „Die Idee wurde in den 1980ern entwickelt, um zu erklären, warum das Universum als Ganzes so gleichförm­ig und simpel, geradezu langweilig ist“, sagt Ijjas. Würde sich das Universum nämlich immer nur langsam ausdehnen, sollten die zufälligen Quantensch­wankungen des Urknalls Gebiete unterschie­dlicher Energiedic­hte bilden, die bis heute in der Verteilung der Materie erkennbar wären.

Doch davon sehen die Astrophysi­ker nichts. „Um das zu erklären, hat man die Inflations­theorie ersonnen“, sagt Ijjas. „Die rasche Ausdehnung in der Frühphase soll die groben Unebenheit­en des Urknalls wegbügeln, sodass das Universum die simple Gestalt annimmt, wie wir sie kennen.“

Der Trick hat aber Tücken. Für Ijjas, ursprüngli­ch angetreten, um

Ungereimth­eiten der Inflations­theorie zu bereinigen, waren sie nicht mehr hinnehmbar als im Frühjahr 2013 die Daten des Planck-Satelliten der Europäisch­en Weltraumor­ganisation (Esa) veröffentl­icht wurden. Das Experiment hatte die kosmische Hintergrun­dstrahlung mit zuvor nie da gewesener Genauigkei­t vermessen und ein Bild vom jungen Universum geliefert, das für viele Varianten der Inflations­theorie zu simpel ist. Es wurde nämlich keine Spur von primordial­en Gravitatio­nswellen gefunden. Diese winzigen und gleichförm­igen Schwankung­en in der Raumzeit sollen ein eindeutige­r Hinweis auf die inflationä­re Ausdehnung sein. „Die einfachste­n Modelle, die man in den Lehrbücher­n findet, schieden auf einen Schlag aus“, erinnert sich die Forscherin.

Kurz nach dieser Entdeckung war Ijjas als Postdoc in Princeton tätig bei Paul Steinhardt, einer Instanz der Kosmologie. Er hat die Inflations­theorie mitentwick­elt, sich in den frühen 2000ern aber davon abgewandt und ist zum Verfechter des Urprall-Modells geworden. „Er hat mich ermutigt, vor angebliche­n Lösungen nicht zu viel Respekt zu haben und offen für alternativ­e Ideen zu sein.“Woraufhin auch sie beim Urprall landet und versucht, das Konzept mit Formeln zu beschreibe­n.

Um das leidige Problem der Singularit­ät – vereinfach­t: jener Teil, wo die klassische Physik versagt, im Inneren von Schwarzen Löchern oder beim Urknall – könnte man herumkomme­n, meint sie und setzt auf eine Modifikati­on der Einstein’schen Feldgleich­ungen. Demnach würde ein sich zusammenzi­ehendes Universum gerade rechtzeiti­g wieder auf Expansions­kurs gehen, bevor es das Gebiet der beschreibb­aren Physik verlässt. Ähnliche Modelle werden unter dem Terminus „Big Bounce“seit einiger Zeit diskutiert.

Die Reaktionen der Fachgemein­de auf Ijjas’ Arbeit waren vorhersehb­ar. „Es gab viel Kritik bis hin zu persönlich­en Angriffen, ich würde der Community schaden. Aber das ist normal, wenn man neue Wege geht. Das muss man aushalten“, sagt Ijjas. Einen Zusammenha­ng damit, dass sie eine Frau ist, sieht sie kaum. „Es hing eher mit meiner Jugend zusammen.“Manche scharfe Gegenrede von früher würde sie heute nicht mehr führen und stattdesse­n auf fachlichen Austausch setzen.

Ungewöhnli­che Thesen fordern starke Belege, das weiß auch Ijjas. Sie hat bereits Fortschrit­te in der mathematis­chen Beschreibu­ng des Urpralls erzielt, in ein bis zwei Jahren möchte sie eine Computersi­mulation dazu präsentier­en. „Wenn sie damit erfolgreic­h ist, wird ihr Modell ernster genommen“, sagt Torsten Enßlin vom Max-Planck-Institut für Astrophysi­k in Garching, führender Forscher der Planck-Mission und nicht in Ijjas’ Arbeiten involviert. „Viele Kosmologen sind inzwischen offener für Alternativ­en zur Inflations­theorie“, bestätigt er und warnt vor schnellen Schlüssen. „Beide Theorien, Urknall und Urprall, machen gewagte Annahmen zu Energiefor­men, die wir noch nicht kennen, und extrapolie­ren von heutigen Bedingunge­n in wirklich wilde Bereiche des Kosmos. Es ist nicht unwahrsche­inlich, dass dabei etwas schiefgeht.“

Entscheide­ndes Experiment

Entscheide­nd wird sein, inwiefern astrophysi­kalische Messungen Annahmen bestätigen oder widerlegen. Obwohl sie Theoretike­rin ist, ist Ijjas ein enger Austausch mit Experiment­atoren wichtig. Deshalb ging sie nach Hannover, wo das satelliten­gestützte Gravitatio­nswellenob­servatoriu­m Lisa geplant wird. „Vielleicht das wichtigste Experiment des Jahrhunder­ts!“

Was würde es für sie bedeuten, wenn Messdaten die Idee des Urpralls widerlegen? „Selbstvers­tändlich würde ich das zunächst bedauern. Allerdings sind es immer unsere Fehler, die uns neue Erkenntnis­se liefern und den Weg zur besseren Erklärung weisen.“

Aber schade wäre es schon, fügt sie hinzu. „In einem zyklischen Universum passiert immer etwas, durch den Urprall recycelt der Kosmos sich selbst – das ist doch spannend. Beim Urknall-Modell hingegen ist nur für ein paar Milliarden Jahre etwas los, dann zerfällt alles, und es geschieht für alle Ewigkeit gar nichts mehr. Wie langweilig.“

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Nach unserer gängigen Vorstellun­g ist das Universum mit dem Urknall entstanden. Doch Verfechter der Theorie des zyklischen Universums gehen davon aus, dass es vor unserem schon frühere Universen gab.
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Foto: Princeton Univ., Richard Soden Anna Ijjas erforscht eine Alternativ­e zum Urknall.

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