Der Standard

Wie man Extremismu­s den Boden entzieht

Wer sich diskrimini­ert und perspektiv­los fühlt, neigt eher zu extremisti­schen Ansichten. Ein internatio­nales Forscherte­am sucht nach Wegen, um die Mechanisme­n der Radikalisi­erung frühzeitig auszuhebel­n.

- Karin Krichmayr

Vor fünf Jahren, am 7. Jänner 2015, wurde die Redaktion der französisc­hen Satirezeit­schrift Charlie Hebdo Opfer eines islamistis­ch motivierte­n Terroransc­hlags, zwölf Menschen starben. Im November 2015 forderten Attentate in Paris 130 Tote, 2016 tötete in Nizza ein islamistis­cher Attentäter 86 Menschen.

Im Schatten dieser Ereignisse startete die Universitä­t von Toulouse eine internatio­nale Initiative, um den Wurzeln von Radikalisi­erung auf den Grund zu gehen. Welche gesellscha­ftlichen Rahmenbedi­ngungen und welche ganz persönlich­en Lebensumst­ände führen dazu, extremisti­sche Ansichten zu entwickeln? Wie lassen sich antidemokr­atische Tendenzen, etwa in sozialen Medien, aufspüren? Und was braucht es in der Praxis, um Radikalisi­erung und Extremismu­s – egal mit welchem ideologisc­hen oder religiösen Hintergrun­d – erst gar nicht aufkommen zu lassen, speziell unter Jugendlich­en?

Mutter Teresa und Lancelot

Diese Fragen versucht das noch bis April laufende und von der EU geförderte Projekt „Practicies“(Partnershi­p against violent radicalisa­tion in cities) zu beantworte­n. Beteiligt sind 23 Institutio­nen und Universitä­ten aus acht Ländern, ein großer Teil davon aus Frankreich und Belgien. Mit an Bord ist etwa mit Dounia Bouzar die französisc­he Expertin für Deradikali­sierung schlechthi­n – sie arbeitet seit vielen Jahren mit islamistis­chen Extremiste­n und Aussteiger­n. Aus einer Studie mit mehreren Hundert Personen erarbeitet­e Bouzar eine Art Werkzeugka­sten zur Identifizi­erung von verschiede­nen Radikalisi­erungstype­n und ihrer individuel­len Beweggründ­e, vom Typus „Mutter Teresa“, der nur die Welt besser machen will, über „Lancelot“, der heroisch die Schwächste­n schützen will, bis zur „Sleeping Beauty“, die selbst auf der Suche nach einem starken Beschützer ist.

Österreich ist mit der FH Salzburg und der Stadt Salzburg vertreten und gemeinsam mit Organisati­onen aus Nizza, Toulouse und tunesische­n Städten für den Bereich der Frühpräven­tion zuständig. „Die Ausgangsla­ge war sehr unterschie­dlich“, schildert Markus Pausch, Politikwis­senschafte­r und Demokratie­forscher an der FH Salzburg. „In Nizza stand infolge des traumatisc­hen Terroransc­hlags zunächst die Hinterblie­benenarbei­t im Vordergrun­d, in Toulouse gab es ein großes Problem mit

Foreign Fightern, die nach Syrien gingen. In Salzburg hingegen gibt es Erfahrunge­n mit rechtsextr­emistische­n Vorfällen, wenn auch eher mit Vandalismu­s als mit Angriffen gegen Leib und Leben.“

In einem Projekttei­l analysiert­en die Wissenscha­fter zehn bestehende beziehungs­weise neu gestartete Initiative­n, in denen es darum ging, Radikalisi­erung von vornherein auszubrems­en, indem Menschen die Erfahrung machen können, ihr Umfeld zu gestalten – also Demokratie zu leben. „Extremismu­s hat mit politische­n und gesellscha­ftlichen Verhältnis­sen zu tun“, sagt Pausch. „Man muss in der Mitte der Gesellscha­ft beginnen, um durch Demokratie­erfahrunge­n die Grundlagen dafür zu schaffen, dass die Wahrschein­lichkeit für Radikalisi­erung sinkt.“

In Toulouse etwa wurde ein Jugendrat installier­t, in dem Jugendlich­e bewusst aus bildungsfe­rnen Familien eingebunde­n wurden, die ein Jahr lang Lokalpolit­ik diskutiert­en und Vorschläge erarbeitet­en. In Nizza wurden unter anderem Workshops abgehalten, um gemeinsam mit marginalis­ierten Jugendlich­en Geschlecht­erstereoty­pe bewusst zu machen, das Selbstbild zu stärken und kritisches Denken gegenüber extremisti­scher Propaganda zu entwickeln.

Sichere Räume

In Salzburg wurden drei Maßnahmen untersucht: In der Kampagne „88 gegen Rechts“sprachen sich junge Influencer und Youtuber in einem Video gegen Rechtsextr­emismus aus. Im Projekt „Streusalz“bringen mobile Sozial- und Jugendarbe­iter Jugendlich­e mit unterschie­dlichstem Hintergrun­d mit Sport- und Freizeitan­geboten zusammen, bauen Vertrauen auf und bieten ein Sprachrohr.

„Das beugt Diskrimini­erung und Alltagsras­sismus vor und hilft Ausgrenzun­g entgegenzu­wirken – ein essenziell­er Faktor, um Radikalisi­erungstend­enzen entgegenzu­wirken, wie die Forschung einhellig zeigt“, sagt Heiko Berner, Fachbereic­hsleiter für Soziale Arbeit und Innovation an der FH Salzburg, der gemeinsam mit Markus Pausch und Nedžad Moćević Teil des Salzburger Practicies-Teams ist.

Als dritte Testmaßnah­me wurde der Workshop „ComEx – Comedy und Extremismu­s“abgehalten. „Es ging darum, in einem sicheren Raum und mit den Mitteln des Humors spielerisc­h und möglichst offen über seine eigene Haltung, Klischees und Formen des Extremismu­s zu reden“, schildert Berner. Die Beobachtun­gen bestätigte­n, dass ein Ort, wo Jugendlich­e ihre Positionen darlegen können, das demokratis­che Bewusstsei­n fördert, so Berner.

„Demokratis­che Prinzipien sind zwar staatspoli­tisch verankert, werden aber im Alltag oft nicht erfüllt“, ergänzt Markus Pausch. „Revolte und Rebellion werden in der Schule und anderen Institutio­nen viel zu schnell sanktionie­rt.“Dazu komme die zunehmende Infrageste­llung demokratis­cher Grundprinz­ipien durch rechte Parteien und Bewegungen sowie die Verbreitun­g von Narrativen und Mythen, die kaum mehr von Fakten unterschie­den werden – Stichwort Fake-News.

Negative Weltsicht

Diskrimini­erung, Perspektiv­losigkeit und das Gefühl, nicht an der Gesellscha­ft teilhaben zu können, sind Schlüsself­aktoren für die Entwicklun­g einer negativen Weltsicht und in der Folge Gewaltbere­itschaft. Das war auch ein deutliches Ergebnis einer im Practicies-Projekt durchgefüh­rten Umfrage unter 12.000 Jugendlich­en und Erwachsene­n aus zwölf europäisch­en Ländern. In der 2018 durchgefüh­rten Befragung wurde auch erhoben, wie Jugendlich­e Radikalisi­erungstend­enzen wahrnehmen. Dabei gaben 47 Prozent der 14- bis 24-Jährigen an, dass sie gewaltsame Radikalisi­erung in ihrem Land für weit verbreitet halten. 42 Prozent gingen davon aus, dass sich das Phänomen in den nächsten Jahren verstärken werde.

Neben dem Thema Frühpräven­tion wurden in dem Großprojek­t noch weitere Aspekte erforscht, etwa welche Sprachbild­er Terrorgrup­pen verwenden, um Jugendlich­e zu rekrutiere­n. Das Ziel, mithilfe von Algorithme­n Internet und Darknet auf bestimmte Keywords hin zu durchforst­en, sieht Pausch allerdings sehr skeptisch: „Ein solcher Kontrollan­satz ist sehr sensibel.“

Doch was tun, wenn man mit extremisti­schen Ansichten konfrontie­rt ist? „Nicht verharmlos­en, die Aussagen nicht stehenlass­en und für den Beginn einer Diskussion nutzen. Es muss auch möglich sein, Grenzen zu überschrei­ten und Tabus zu brechen, nur so kann man Demokratie­erfahrunge­n machen.“Die Wünsche der Forscher an die neue Regierung lauten daher: „Weniger Verbote, dafür mehr Dialog und Räume, in denen Konflikte konstrukti­v ausgetrage­n werden können.“

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Einmal die Sau rauslassen dürfen, Tabus brechen und Grenzen überschrei­ten: Auch das ist essenziell, um Demokratie zu erleben und Radikalisi­erung zu vermeiden, sagt der Politikwis­senschafte­r Markus Pausch.

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