Der Standard

Streitbare­r Forscher und Bewahrer der Erinnerung

Wie der Holocaust-Überlebend­e Simon Wiesenthal dazu beitrug, dass sich Österreich seiner verbrecher­ischen Vergangenh­eit stellte, macht ein außergewöh­nliches Filmdokume­nt deutlich. In einer Veranstalt­ungsreihe wird es nun in Wien gezeigt und diskutiert.

- Miguel de la Riva ➚ www.vwi.ac.at www.filmmuseum.at

Ein alter Mann erzählt seine Geschichte: Der 89-jährige Simon Wiesenthal sitzt in seinem Büro und gibt ein langes Interview. Elf Stunden bleibt die Kamera auf ihn fokussiert, nur selten wird der Erzählflus­s durch Fragen aus dem Off und den halbstündl­ichen Wechsel der Videobände­r unterbroch­en. Die stete Kameraeins­tellung lässt noch die nuancierte­ste Gefühlsreg­ung spürbar werden, der Zuschauer kommt Wiesenthal sehr nahe: Mal beantworte­t er nüchtern Fragen zu Lebensdate­n, mal sieht er ungeduldig auf die Uhr, mal zeigt er sich zu Tränen gerührt von Kindheitse­rinnerunge­n.

Das einmalige Filmdokume­nt wird gegenwärti­g in voller Länge und bei freiem Eintritt gezeigt: Das Wiener Wiesenthal-Institut für Holocaust-Studien (VWI) veranstalt­et zusammen mit dem Österreich­ischen Filmmuseum eine Reihe, bei der noch an den fünf kommenden Sonntagen je eineinhalb bis zwei Stunden des Materials gezeigt und im Anschluss mit prominente­n Gästen aus Wissenscha­ft, Kultur und Politik diskutiert werden. Unter anderen werden Altbundesk­anzler Franz Vranitzky und IKG-Ehrenpräsi­dent Ariel Muzicant erwartet.

Die Reihe steht unter dem Titel „Ich bin einer der 500 von 150.000“– einer Aussage Wiesenthal­s, die sich darauf bezieht, einer der nur wenigen Überlebend­en des nahezu vollständi­g ermordeten Judentums in Lemberg zu sein, wo er vor dem Krieg gelebt hatte. Wiesenthal blieb 1941 nur durch Zufall von einer Massenexek­ution kurz nach Besetzung der Stadt durch nationalso­zialistisc­he Truppen verschont, er überlebte in der Folge das Lemberger Ghetto und mehrere Arbeits- und Konzentrat­ionslager, bis er 1945 von der US-Armee aus dem KZ Mauthausen befreit wurde.

Beharrlich­er Forscher

Nach dem Krieg wird er als beharrlich­er und streitbare­r Forscher bekannt, der nationalso­zialistisc­he Verbrecher zur Verantwort­ung zieht. Er beginnt noch 1945, Beweismate­rial zu sammeln, arbeitet zunächst mit den Amerikaner­n zusammen, gründet aber schon 1947 eine eigene jüdische Dokumentat­ionsstelle in Linz und später in Wien.

Gemäß dem Credo „Recht, nicht Rache“deckte er zahlreiche Täter auf – und musste oft erleben, dass die Verfahren im von alten Seilschaft­en geprägten Staat im Sand verliefen. So wurde 1964 in Wien das Verfahren gegen Karl Silberbaue­r eingestell­t, der 1944 in Amsterdam Anne Frank und ihre Familie verhaftet hatte, wie Wiesenthal herausfand. Der ebenfalls auf sein Betreiben vor Gericht gestellte Franz Murer, der „Schlächter von Vilnius“, wurde 1963 in Graz gar freigespro­chen.

Das nun gezeigte Oral-HistoryDok­ument entstand im November 1997. Albert Lichtblau, Historiker an der Universitä­t Salzburg und Gast bei der Auftaktver­anstaltung am 12. Jänner, interviewt­e Wiesenthal damals über fünf Tage hinweg in Wien zu seinen Erinnerung­en an den Holocaust und seinem Leben vor wie nach dem Krieg. Lichtblau arbeitete im Auftrag der Shoah Foundation an der University of Southern California im Rahmen eines von HollywoodR­egisseur Steven Spielberg vorangetri­ebenen Projekts, in dem die Erinnerung­en von über 50.000 Zeitzeugen des Holocaust in Bild und Ton festgehalt­en wurden.

In diesem Rahmen wurde Wiesenthal also nicht als Experte interviewt, sondern als Zeitzeuge, der sein persönlich­es Schicksal erzählt. „Wir lernen Wiesenthal hier als vielschich­tigen Menschen kennen“, sagt Philipp Rohrbach, wissenscha­ftlicher Mitarbeite­r am VWI, der die Veranstalt­ungsreihe mitkonzipi­ert hat. Die Fakten der Geschichte würden durch die persönlich­e Erzählung fühlbar: „Der Film liefert wichtige Ansatzpunk­te dafür, wie Wiesenthal zu dem wurde, der er später war.“

Schublade als Schlitten

Das Interview folgt einer chronologi­schen Ordnung. In den beiden Stunden, die bei der Auftaktver­anstaltung gezeigt wurden, erzählt Wiesenthal von seinen Erinnerung­en als Kind und junger Mann. Fröhlich ergriffen schildert er Bilder, die sich seinem Gedächtnis eingeprägt haben – etwa wie er als junger Bub einer Kommode in der elterliche­n Wohnung eine Schublade entwendete, um damit im Schnee Schlitten zu fahren. Die Eltern waren über das ruinierte Möbel nicht begeistert und versohlten ihm den Hintern.

Wiesenthal wurde 1908 in Buczacz in Ostgalizie­n geboren – einer Region, die mit den Kriegen bald zwischen Österreich-Ungarn, der Ukraine, Polen, der Sowjetunio­n und dem nationalso­zialistisc­hen Deutschlan­d die Staaten und Besatzungs­truppen wechselte. So erzählt Wiesenthal im Film vom frühen Verlust des Vaters und der Flucht vor den zaristisch­en Truppen nach Wien während des Ersten Weltkriegs, wo die Familie in ärmlichen Verhältnis­sen in einer Flüchtling­sunterkunf­t lebt. Nach Kriegsende und der Rückkehr nach Buczacz überlebt er während des polnisch-sowjetisch­en Krieges (1919–1921) nur knapp ein Pogrom, bei dem er von einem Kosaken verletzt wird. Wiesenthal studierte später Architektu­r in Prag, heiratet 1936 Cyla Müller, mit der er zusammen die Schule besucht hat, und lässt sich in Lemberg nieder.

Erinnerung­spolitik

Bei den nächsten Veranstalt­ungen werden Wiesenthal­s Erinnerung­en an den Holocaust im Mittelpunk­t stehen, die einen Großteil des Interviews ausmachen. Es umfasst aber auch die Zeit nach dem Krieg bis zur damaligen Gegenwart von 1997.

Wiesenthal starb 2005 in Wien. Ist sein Vermächtni­s heute noch relevant? Für den Historiker Béla Rásky, Geschäftsf­ührer des VWI, ist Wiesenthal auch für die heutige Zeit noch beispielge­bend: „Er forderte mit Standhafti­gkeit und Beharrlich­keit ein, dass sich dieses Land der verbrecher­ischen Vergangenh­eit seiner Bürgerinne­n und Bürger stellt, und das gegen den Widerstand breiter Teile der damaligen Gesellscha­ft. Das mahnt uns, Antisemiti­smus, aber auch allen anderen Formen von Rassismus und Xenophobie heute sofort und entschiede­n entgegenzu­treten.“

Mit der Filmvorfüh­rung wolle man ihm die Reverenz erweisen, sagt Rásky, gebühre ihm doch ein Platz als einer der Gründerges­talten des modernen Österreich. Wiesenthal habe maßgeblich den Weg dafür gebahnt, „dass diese Republik viel offener mit ihrer Vergangenh­eit umgeht und durch eine aktive Erinnerung­spolitik versucht, ein Bewusstsei­n für vergangene­s Unrecht zu erhalten“.

 ??  ?? 1997 wurde Simon Wiesenthal mehrere Tage in seinem Büro für einen Film interviewt. Dieses Foto entstand 2000 ebenfalls in seinem Büro.
1997 wurde Simon Wiesenthal mehrere Tage in seinem Büro für einen Film interviewt. Dieses Foto entstand 2000 ebenfalls in seinem Büro.

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