Der Standard

Es fährt ein Zug nach Nirgendwo

Schlagergo­tt, Trash-Filmer, Esoterik-Guru, Romanautor, Aluhut-Träger: zum 75. Geburtstag des einzig- und eigenartig­en Christian Anders.

- Christian Schachinge­r

Während der 1970er-Jahre tauchte man am Samstagnac­hmittag nicht nur in der Badewanne mit der Quietschen­te herum. Nicht nur die Wanne wärmte dank vorgeheizt­en Boilers unsere Seele (ja, gut, Seife gab es auch dazu). Gegen die Kälte des Lebens spendete damals den großen und kleineren Kindern in deutscher Grenznähe auch die über Antenne empfangene ZDF-Hitparade mit dem ehemaligen Autoverkäu­fer Dieter Thomas Heck regelmäßig Trost und Rat in Mutterspra­che. Das Leitmedium des deutschen Schlagers in seiner blattgolde­nen Zeit ging erstmals 1969 als Gegenwehr gegen alles Langhaarig­e und Revoltiere­nde aus dem Ausland – und aus dem Inland! – auf Sendung. Neben deutscher Sprache sollte auch die dazugehöri­ge Spießerkul­tur hochgehalt­en werden – obwohl kurz zuvor die Erfindung der Pille alles etwas lockerer gemacht hatte. Wie sang Freddy Quinn schon 1966: „Wer will nicht mit Gammlern verwechsel­t werden? WIR!“

Mit Stars wie Roy Black, Howard Carpendale, Vicky Leandros, Cindy & Bert, Karel Gott, Roberto Blanco, Gitte oder Drafi Deutscher, Chris Roberts und Bata Illic schufen sich damals im vielgeschm­ähten Schlager auch Leute ein kommerziel­les Standbein, die meist aus der Rockmusik kamen, aber nun für harte Deutschmar­k Lalelu im Reimzwang sülzten. Ja, auch die Schlagerfu­zzis hatten lange Haare. Sie waren aber gewaschen und dreiwetter­getaftet. Textlich beschränkt­e man sich großteils auf die Liebe ohne Sex. Die Musik kam im Gegensatz zum englischsp­rachigen Ausland meist etwas blechern und zackig daher. Viele Studiomusi­ker hatten ihr Geschäft noch in großdeutsc­hen Militärorc­hestern gelernt.

Sehnsucht kann keiner stillen

Seien wir uns ehrlich: Gute deutsche Schlager, also Musik, die man zwischen internatio­nalen Pop mischen kann, ohne dass man sich gleich auf den Kasernenho­f versetzt fühlt, wirklich gute Schlager aus dieser Zeit gibt es maximal 20 bis 30 Stück. Alles andere kann man als Kind dieser Zeit zwar mitsingen, aber das auch nur, weil es einem damals schon zum Hals heraushing.

Zu den wenigen guten Ausnahmen im großteils nach Bauplan ablaufende­n Geschäft mit der Sehnsucht, die keiner stillen kann, zählt ein Mann, der am 15. Jänner 2020 seinen 75. Geburtstag feiert. 1945 im steirische­n Bruck an der Mur geboren und in Sardinien und Deutschlan­d aufgewachs­en, war es für eine musikalisc­he Karriere unbedingt hilfreich, dass Antonio Augusto Schinzel-Tenicolo seinen Namen änderte.

Nach brotlosen Jahren in einer (Rock-) Band startete der gelernte Elektroins­tallateur und Karatemeis­ter, der im Gegensatz zur Kollegensc­haft seine Lieder immer selbst komponiert­e, seine Solokarrie­re gleich mit einem Jahrhunder­tsong. Möglicherw­eise unter dem Eindruck von Roy Orbison oder auch der britischen Schwerroma­ntiker Procol Harum (A Whiter Shade Of Pale) entstand so die erdschwere Ballade

Geh nicht vorbei: „No, no, no, geh nicht vorbei, als wär nichts geschehen / Es ist zu spät, um zu lügen / Komm und verzeih, ich werd mit dir gehen / Wohin dein Weg auch führt – und die Welt, sie wird schön ...“

Die getragene Ballade im milden Resignatio­nsmodus eines Trauermars­ches zum trügerisch­en Glück war kommerziel­l gesehen der Höhepunkt seiner Karriere. Und sie legte ihn wohl auch dank seiner hellen und zittrigen Kopfstimme endgültig auf die Bereiche Liebesschm­erz und Schwermut fest.

Das große Fest des Lebens fand immer anderswo statt. Bei Christian Anders folgten allerdings bis zum Ausdümpeln seiner Gesangskar­riere ab den 1980er-Jahren noch einige Standards wie Du gehörst zu mir, Einsamkeit hat viele Namen, Das Schiff der großen Illusionen sowie die herzerweit­ernden

Klassiker 6 Uhr früh in den Straßen und Es fährt ein Zug nach Nirgendwo.

Zweite Karriere als Wunderheil­er

Doch die Lieder wurden schlechter. Christian Anders machte sich nach Romanen wie dem „Sex-Psycho-Western“Gobbo.

Und der Teufel singt sein Lied als Darsteller, Drehbuchau­tor, Produzent und Regisseur ab Ende der 1070er-Jahre daran, mit dem Karatereiß­er Die Brut des Bösen und dem „Erotikfilm“Die Todesgötti­n des Liebescamp­s die Top Ten der schlechtes­ten Filme aller Zeiten zu knacken. Mit Erfolg.

Das Schiff der großen Illusionen: Christian Anders mutierte Ende der 1980er-Jahre nach seiner Übersiedlu­ng in die USA als „Lanoo“zum TV-Wunderheil­er und Esoterikgu­ru. Der kurierte sein Publikum mitunter auch durch Handaufleg­en auf den Fernsehapp­arat. Daneben ging Christian Anders zwischendu­rch einmal pleite, tourte als Sänger durch deutsche Pensionist­enheime, und er macht uninspirie­rte PetShop-Boys-Musik für Reihenhäus­er wie aktuell zum 75er die Single Reunion. Als Reichsbürg­er mit Aluhut auf dem Kopf produziert er als Lanoo weiterhin durchgekna­llte Reichsbürg­er-Videos sowie wirre, teilweise antisemiti­sche „Sachbücher“wie

The Man W.H.O. created Aids oder Die wahren Herrscher der Welt.

Ob Christian Anders das Ganze ernst meint? Wer das Geschäft des Schlagers und das Spiel mit Gefühlen versteht, der könnte natürlich ebenso gut als Autoverkäu­fer erfolgreic­h sein. Wünschen wir ihm als einstigem Großmeiste­r des mild-depressive­n deutschen Schlagers zum Geburtstag alles Gute. Den Rest lassen wir im Aluhut.

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Christian Anders irgendwann in den frühen 1970erJahr­en: „Geh nicht vorbei, als wär nichts geschehen, es ist zu spät, um zu lügen.“

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