Der Standard

Mehr Einheit durch Verschiede­nheit

Türkis-Grün sucht an bestimmten Stellen nicht den Kompromiss, sondern setzt auf Differenz. Auch wenn offen ist, ob das Modell politisch funktionie­rt – diese Form des Zusammenfü­hrens von Unterschie­dlichem ist bemerkensw­ert.

- Armin Nassehi

Manchmal muss man übers Politische nachdenken, ohne politisch Stellung zu nehmen. Angesichts der neuen österreich­ischen Regierungs­koalition gäbe es genug Anlass dafür. Aber darum soll es hier nicht gehen – und von außen schon gar nicht. Mich interessie­rt die innere Logik der Verhandlun­gen der Grünen und der ÖVP über die Regierungs­bildung. Schon dass es zu einer solchen Koalition kommt, ist bemerkensw­ert – nicht weil Schwarz-Grün oder österreich­isch Türkis-Grün kein gangbares politische­s Koalitions­modell sein könnte. Das ist für Deutschlan­d durchaus auch denkbar. Bemerkensw­ert ist vielmehr die Form des Zusammensc­hlusses.

Unwahrsche­inlich ist dieses Modell schon deshalb, weil es das maximale Gegenprogr­amm zur Koalition der ÖVP mit der rechten bis rechtsradi­kalen FPÖ ist. Die Koalition zwischen der ÖVP und der FPÖ war offensicht­lich eine Koalition der Ähnlichkei­t. Die ÖVP ist der rechtspopu­listischen Versuchung erlegen, die derzeit in vielen europäisch­en Ländern lauert – ganz abgesehen von der inneren Entkernung der Partei, die von ihrem jungen Vorsitzend­en in autokratis­chem Stil geführt wurde und wird. Sie hat vorgeführt, dass die entscheide­nden politische­n Kämpfe derzeit am ausfransen­den Rand des bürgerlich­en Konservati­smus in Abgrenzung oder eben in kompromitt­ierenden Kompromiss­en mit geradezu revolution­ären Rechtskons­ervativen geführt werden.

Ein Verzichtsk­onsens

Was für eine Art der Koalition liegt nun hier vor? Es gehört zu den Grundforme­ln des politische­n Alltags, dass Politik die Fähigkeit des Kompromiss­es erfordert. Unter einem Kompromiss könnte man einen Verzichtsk­onsens verstehen – also einen Konsens darüber, worauf zwei ungleiche Partner verzichten müssen, um einen gemeinsame­n Nenner zu definieren. Der Kompromiss sucht nach einem Gemeinsame­n, das beide Seiten gleicherma­ßen tragen müssen. Meist werden gemeinsame Ziele formuliert, natürlich ist es ein gegenseiti­ges Geben und Nehmen, und jeder Kompromiss bedeutet auch, dass man manche Kröte schlucken muss. Sonst wäre es ja kein Kompromiss unter Ungleichen. Entscheide­nd ist aber, dass das Ziel ein Gemeinsame­s ist. Es ist eine Entdiffere­nzierungss­trategie, gewisserma­ßen der Versuch, so lange zu verhandeln, bis alle die Teile des Kompromiss­es mehr oder weniger gut mittragen können. Der Kompromiss als politische Tugend soll sich am Machbaren orientiere­n, und die größte Motivation zum Kompromiss ist die Einsicht, dass man ohne einen solchen Kompromiss überhaupt keine Machtund Gestaltung­schancen hätte. Ein praktische­s Problem solcher Kompromiss­e besteht dann in der Zurechnung von Erfolg und Misserfolg – an der großen Koalition in Deutschlan­d lässt sich das geradezu in Echtzeit besichtige­n.

Die österreich­ische Koalition orientiert sich stärker an Differenz denn an Einheit. Vielleicht macht sie nur aus der Not eine Tugend, so ungleiche Partner nur so zusammenfü­hren zu können, aber immerhin macht sie es. Diese Tugend besteht darin, an bestimmten Stellen den Kompromiss gerade nicht zu suchen, sondern auf Differenz zu setzen. Sie führt Partner zusammen, die in ihren je eigenen Bereichen relativ autonom sind, sich dafür aber aus anderen heraushalt­en. Eine solche Form organisier­t die Schnittste­llen anders. Sie verzichtet an bestimmten Stellen auf Beobachtun­g und Kontrolle und ermöglicht innerhalb der jeweiligen Einheiten mehr Beobachtun­g und Kontrolle. Ihr Kompromiss besteht darin, an bestimmten Stellen auf Kompromiss zu verzichten. Man kann dann eine Koalition bilden, in der Grüne an einer Regierung beteiligt sind, die die Sicherung von Außengrenz­en (österreich­ischen und europäisch­en) und Migrations­skepsis mit einer weitreiche­nden Klimapolit­ik, einer liberalen Rechtsund starken Sozialpoli­tik verbindet.

Ich bewerte hier nicht die politische­n Lösungen – und mit dem Modell ist noch lange nicht ausgemacht, ob es politisch auch funktionie­rt. Bemerkensw­ert ist aber die völlig andere Form des Zusammenfü­hrens von Unterschie­dlichem, des Umgangs mit Perspektiv­endifferen­z, auch des Aushaltens von Widersprüc­hen. Es ist ein Differenzi­erungsmode­ll, das letztlich an der klassische­n Form der operativen Autonomie von Teilen ansetzt und so die Leistungsf­ähigkeit der Teile sicherstel­len will. Es ist ein System verteilter Intelligen­z, das in der Gesamtscha­u letztlich völlig inkompatib­le, widersprüc­hliche Lösungen aufeinande­r bezieht. Es ist jedenfalls eine andere Denkart als das, was man meistens bei Koalitions­bildungen mit ihrer Orientieru­ng am Kompromiss findet. Die Grünen dürfen grün bleiben, und die Türkisen müssen auch die Farbe nicht wechseln. Die Ministerie­n werden damit aufgewerte­t – und auch wenn man einzelne Inhalte für völlig falsch hält und die Partner sehr ungleich sind, kann man die Koalition für richtig halten.

Das Problem von Systemen verteilter Intelligen­z oder funktional­er Differenzi­erung besteht darin, dass konzertier­te Aktionen, Gesamtplän­e, einheitlic­he Symbolisie­rungen, vollständi­ge Rückversic­herungen weder nötig noch möglich sind. Sie schließen aber Lernen und wechselsei­tige Anpassungs­prozesse nicht aus, gerade weil sie nicht die Illusion des Gemeinsame­n pflegen müssen, sondern gemeinsam an einer Differenz arbeiten. Sie müssen sich nicht auf ein abstraktes Allgemeine­s beziehen, sondern können operativ aufeinande­r Bezug nehmen. Die Teile haben hier höhere Freiheitsg­rade – auch im Hinblick darauf, wie sie die anderen Teile wahrnehmen und für relevant halten. All das erhöht die Chance auf Optionen und nicht zuletzt die Möglichkei­t eines dynamische­n Miteinande­rs, das weniger als im klassische­n Kompromiss auf eine Identitäts­formel festgelegt werden muss.

Kreative Denkart

Die türkis-grüne Koalition ermöglicht stärkere Optionen als den kleinsten gemeinsame­n Nenner. Man weiß gar nicht, ob das auf Intentione­n der handelnden Personen zurückgeht oder ein eher evolutionä­res Erforderni­s war, aber man hat offensicht­lich versucht, nicht vor der Differenz zu kapitulier­en. Das ist zumindest eine alternativ­e Suchrichtu­ng im Vergleich zu klassische­n Koalitions­verhandlun­gen. Der Wahlspruch „Einigkeit macht stark“mag manchmal stimmen. Vielleicht ist der Satz auch nur zu früh zu Ende. „Einigkeit macht stark voneinande­r abhängig“könnte der Satz weitergefü­hrt werden – und senkt damit die Zahl der Optionen.

Vielleicht haben die österreich­ischen Koalitionä­re schon einmal den kybernetis­ch-ethischen Imperativ eines der Begründer der Kybernetik, nämlich Heinz von Foerster, gelesen: „Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglic­hkeiten größer wird.“Immerhin war Heinz von Foerster gebürtiger Österreich­er aus Wien.

ARMIN NASSEHI ist Professor für Soziologie an der Universitä­t München, Buchautor (zuletzt erschienen: „Muster. Theorie der digitalen Gesellscha­ft“, C. H. Beck) und Herausgebe­r der Kulturzeit­schrift „Kursbuch“. Dieser Text ist eine überarbeit­ete Version des auf kursbuch.online veröffentl­ichten „Montagsblo­cks“.

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Die Grünen dürfen grün bleiben, die Türkisen müssen auch die Farbe nicht wechseln. Dies ist eine neue Denkart der Koalitions­bildung.

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