Überleben am „Ground Zero“der Buschbrände
Wingello ist eine der vielen Gemeinden, die in Australien besonders stark von den Bränden betroffen sind. Der 81-jährige Ron Stainstreet verlor sein Zuhause – aber nicht sein Leben, wie die Behörden vermutet hatten.
Ron Stainstreet hat alles verloren – außer seinen Appetit. Genussvoll beißt er in das Steaksandwich, das ihm die Feuerwehr auf dem Grill zubereitet hat. „Ich wäre nicht mehr hier, wenn ich nicht schon vor dem Brand abgehauen wäre“, sagt er mit vollem Mund. Ron ist 81 Jahre alt. Er trägt eine unter dem Knie abgeschnittene Hose, Hemd, Pullover, Turnschuhe. „Dasselbe, was ich vor vier Tagen getragen habe“, erzählt er.
Wingello, ein kleines Dorf zwei Stunden südlich von Sydney. 500 nette Menschen, ein paar Pferde, ein Greißler, der auch als Poststelle dient. Wingello – der Name kommt aus der Sprache der Ureinwohner und bedeutet „brennen“. Wingello ist „Ground Zero“der Feuerkatastrophe in Australien – einer von vielen. Das Dorf ist typisch für unzählige kleine Siedlungen im Südosten des Kontinents. Elf Häuser wurden hier vom Feuer zerstört. Auch das von Ron Stainstreet.
Dauereinsatz für Freiwillige
Sein Appetit hat auch damit zu tun, dass er froh ist, überhaupt noch zu leben. Der Feuerwehrkommandant sei zu ihm nach Hause gekommen, damals. „Ronnie, das ist diesmal ein wirklich großes Feuer, schau zu, dass du wegkommst“, waren seine Worte. Ron fuhr mit dem nächsten Zug in die nahe Provinzstadt Goulburn. Dort nahm er sich ein Zimmer. Er setzte sich an die Bar, bestellte ein Bier und wartete. Einen Tag, zwei Tage. Vier Tage und viele Biere später sei ein Polizist gekommen: „Wir haben dich gesucht, Ronnie!“Der alte Mann wischt sich Ketchup aus den Mundwinkeln: „Die haben geglaubt, ich sei verbrannt.“Dann fuhr Ron Stainstreet heim. Er habe dann schon gewusst, dass sein Haus nicht mehr stehe.
Es herrscht geschäftiges Treiben hier in der kleinen Feuerwehrstation von Wingello. Auf dem Vorplatz rüsten sich sechs Feuerwehrmänner für den nächsten Einsatz. Einer kontrolliert den Ölstand seines Tanklöschfahrzeugs. Die Maschinen sind seit September im Dauereinsatz. Die Buschfeuersaison begann Monate früher als in anderen Jahren. Alle Feuerwehrleute sind Freiwillige. Viele hatten schon seit Wochen gegen das Feuer gekämpft, jenes Feuer, das schließlich das Dorf doch überwältigte.
„Es ist noch lange nicht vorbei“, warnt nun ein Feuerwehrmann. In der Schlucht hinter dem Dorf lauert das Feuer, einer wilden Bestie gleich, bereit zum nächsten Angriff. Ein Team von Einsatzkräften hält es in Schach,
Tag und Nacht. Niemand hier glaubt, dass dieser Brand gelöscht werden kann. Zu großflächig ist er. „Nur starker Regen kann das“, warnt der oberste Feuerwehrkommandant Shane Fitzsimmons. Regen gibt es frühestens im April, falls überhaupt.
„Ich habe keine Ahnung, weshalb es mich getroffen hat und nicht meine Nachbarn“, sagt Ron. Wie so oft bei
Buschfeuern stehen neben zerstörten Häusern Gebäude, die völlig unberührt scheinen. Er atmet schwer, als er die Straße hochwandert, zur Ecke, wo noch vor ein paar Tagen sein Haus gestanden ist. Dann spricht ihn ein Mann an, wohl so um die 70, mit weißem Strohhut und rotem Kopf. Er ist außer sich vor Wut und Empörung. „Ist es nicht unglaublich mit diesen verdammten Grünen?“, fragt er Ron.
Kommentatoren und Klimaaktivisten rund um den Globus mögen bei Premierminister Scott Morrison Inkompetenz und Arroganz beklagen, in den Straßen von Wingello scheinen die Schuldigen aber nur die „Grünen“zu sein. Und sonstige „Gutmenschen“. Das sagt ein Mann mit Army-Haarschnitt und Spiegelsonnenbrille, der sich zu Ron stellt. Denn die hätten das präventive Abbrennen der Wälder verboten. Dadurch hätten sich Millionen Tonnen trockener Blätter und Rinde ansammeln können – Zunder auch für die kleinste Flamme. Doch diese Behauptung ist falsch – „Unsinn“, wie sogar ein Feuerwehrkommandant kritisierte. Progressive Parteien befürworten diese Methode.
Die Zeitung unter dem Arm des Manns mit der Sonnenbrille gibt Aufschluss über den Ursprung seines Denkens: der Daily Telegraph, die meistgelesene Zeitung Australiens. Propaganda statt Journalismus: Seit 20 Jahren leugnen jeden Tag auflagestarke Blätter wie dieses die Existenz des Klimawandels und bejubeln die Vorteile des Brennstoffs Kohle, des größten Klimakillers überhaupt.
Ron kann sich vom Mann lösen. „Ich glaube, es ist einfach die Natur“, sagt er, als er bei seinem Grundstück ankommt. „Aber ich weiß es nicht. Niemand weiß es.“Über eine kleine Treppe betritt der alte Mann das, was einmal sein Garten gewesen ist. Er zeigt auf ein paar Autoanhänger: „Die habe ich selbst gebaut.“Die Seitenwände sind ausgeglüht. Von den Reifen sind nur noch die Stahldrähte zu sehen. Daneben das Skelett eines Kleinbusses, eine verglühte Gartenschere, ein zerstörter Rasenmäher.
Die Suche nach Erinnerungen
Ron stakt durch die Überreste seines Gartens, den Blick nach unten gerichtet, vorsichtig bedacht, auf nichts zu treten, was vielleicht kostbar sein könnte. Im verkohlten Abraum seines Lebens sucht er nach Erinnerungen. Erst jetzt zeigt er Emotionen, seine Augen werden feucht. „100 Jahre alt war mein Haus“, sagt er, „und das ist alles, was davon übrig geblieben ist.“
Er zeigt auf zwei Schornsteine. Die ausgeglühten Wurzeln eines uralten Efeubaums umklammern sie. Der Himmel ist rauchverhangen und wirkt bedrohlich. Im Hintergrund heulen die Sirenen der Feuerwehr. Sie sind wieder auf dem Weg zur Schlucht. „Es ist noch lange nicht vorbei“, sagt Ron, „noch lange nicht.“
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