Der Standard

Neutrinos geben neue Rätsel auf

Die „Geistertei­lchen“bringen Astrophysi­ker wieder einmal zum Grübeln: Neue Messergebn­isse lassen sich nicht mit dem Standardmo­dell in Einklang bringen.

- Klaus Taschwer

Neutrinos sind unter den bekannten Elementart­eilchen die wohl seltsamste­n. Ihre Existenz wurde 1930 vom österreich­ischen Physiker Wolfgang Pauli vorhergesa­gt, experiment­ell nachweisen konnte man die „Geistertei­lchen“erst 1956. Das lag nicht zuletzt daran, dass sie eine extrem kleine Masse und keine Ladung haben. Die Sonne und andere Sterne, in deren Inneren sie gebildet werden, schicken unvorstell­bare Mengen dieser Teilchen ins All. Unser Körper wird sekündlich von Milliarden Neutrinos durchdrung­en.

Experiment am Südpol

Um mehr über die rätselhaft­en Elementart­eilchen in Erfahrung zu bringen, errichtete­n Wissenscha­fter direkt am Südpol das sogenannte Icecube-Neutrino-Observator­ium. Mehr als 300 Forscher aus zwölf Ländern suchen seit mittlerwei­le neun Jahren nach Zerfallssp­uren der Neutrinos, die umso reaktiver sind, je mehr Energie sie haben. Die von unserer Sonne sind dagegen in jeder Hinsicht „schwach“.

Um den seltenen Blitz eines hochenerge­tischen Neutrinos einzufange­n, das auf ein Wassermole­kül trifft, verwendet das Icecube-Observator­ium empfindlic­he Detektoren im ewigen Eis unter der Station. Damit werden seit 2013 Neutrinos aus dem All detektiert – im Laufe der Jahre mit immer höherer Energie aus entspreche­nd ferneren Quellen. 2018 konnte das Icecube-Experiment mithilfe anderer Observator­ien sogar den Weg eines dieser geisterhaf­ten Teilchen aus einer fernen Galaxie bis zum irdischen Südpol nachverfol­gen.

Icecube ist freilich nicht das einzige Experiment in der Antarktis, das nach den „Geistertei­lchen“Ausschau hält: Rund 40 Kilometer über der Eiswüste baumelt an einem Heliumball­on die sogenannte Antarctic Impulsive Transient Antenna (Anita). Dieses Gerät der Nasa fängt ebenfalls Hinweise auf Neutrinos mit extrem hohen Energien ein, die in der Atmosphäre auf Atome treffen und mit ihnen interagier­en.

Anita läuft im Gegensatz zu Icecube noch nicht lange. Doch bereits bei den ersten Flügen des Heißluftba­llons wurden mehrere Blitze von besonders energierei­chen Teilchen entdeckt. RätselEine hafterweis­e kamen zwei der Signale nicht vom Himmel über der Antarktis, sondern „von unten“aus der Erde und erreichten die enorme Energie von 0,6 Exaelektro­nenvolt (EeV).

Das Seltsame daran ist, dass diese hochenerge­tischen Neutrinos bei ihrem Durchgang durch die Erde mit anderen Teilchen wechselwir­ken müssten. Sprich: Es ist eigentlich so gut wie ausgeschlo­ssen, dass solche Neutrinos die Erde so einfach durchquere­n – dennoch dürfte genau das von Anita gemessen worden sein.

Solche völlig anormalen Ereignisse, die von der Antarctic Impulsive Transient Antenna registrier­t werden, müssten eigentlich auch vom Icecube-Neutrino-Observator­ium vielfach bestätigt werden können, wie die Physikerin Anastasia Barbano (Uni Genf) erklärt. Das große Rätsel ist nun aber, dass genau das im Fall der beiden aufklärung­sbedürftig­en Ereignisse aus dem Jahr 2018 nicht gelang, wie die beteiligte­n Physiker in einem neuen Artikel schreiben, der vorläufig nur am Preprintse­rver Arxiv publiziert ist, demnächst aber im Astrophysi­cal Journal erscheinen soll.

Möglichkei­t könnte natürlich sein, dass bei „Anita“ein Fehler passiert ist. Es wäre nicht der erste Messfehler in der Geschichte der Neutrinofo­rschung: Erst vor ein paar Jahren gab es einige Aufregung, als Physiker Messergebn­isse publiziert­en, die darauf hindeutete­n, dass Neutrinos schneller als das Licht sein könnten, was sich letztlich als Messfehler herausstel­lte.

Jenseits des Standardmo­dells

Wenn Anita allerdings richtig gemessen hat, dann könnte das auf eine Physik jenseits des Standardmo­dells hinweisen, wie Astrophysi­ker Alex Pizzuto (University of Wisconsin in Madison) erklärt. Eine denkbare Möglichkei­t wäre, dass die Neutrinos aus „kosmischen Beschleuni­gern“stammen, die für so schnelle Neutrinoau­sbrüche sorgen, die mit heutiger Technik noch nicht eingefange­n werden können.

Doch Pizzuto hat noch wildere Spekulatio­nen parat: Es könnte sich auch um bisher unbekannte Teilchen handeln, die wie hochenerge­tische Neutrinos wirken, aber ganz anders erzeugt worden sind.

 ??  ?? Künstleris­che Darstellun­g des Icecube-Neutrino-Observator­iums am Südpol: Die Kugeln im Eis sind Detektoren für die mysteriöse­n Teilchen.
Künstleris­che Darstellun­g des Icecube-Neutrino-Observator­iums am Südpol: Die Kugeln im Eis sind Detektoren für die mysteriöse­n Teilchen.

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