Der Standard

„Ethiker und Dichter kennen kaum Dilemmas“

Moral kommt von innen, sagt der deutsche Psychologe Georg Lind. Sie muss trainiert werden, um die moralische­n Dilemmas im Alltag ohne Gewalt oder Betrug und ohne die Verantwort­ung an autoritäre Führer abzugeben zu lösen. Das Ziel lautet Moralkompe­tenz.

- INTERVIEW: Lisa Nimmervoll

Die türkis-grüne Regierung hat sich wie die ÖVP-FPÖ-Koalition geeinigt, Ethikunter­richt nur für jene Schüler einzuführe­n, die keinen Religionsu­nterricht besuchen oder ohne religiöses Bekenntnis sind. Der deutsche Psychologe Georg Lind plädiert dafür, dass in der Schule generell die Moralkompe­tenz gefördert werden müsse. Moral ist lehrbar! Wie man moralisch-demokratis­che Fähigkeite­n fördern und damit Gewalt, Betrug und Macht mindern kann heißt eines seiner Bücher. Mit der Konstanzer Methode der DilemmaDis­kussion schuf Lind ein Verfahren, das die moralische Urteils- und Diskursfäh­igkeit nachweisli­ch stärkt. Sie wird weltweit angewendet, in Schulen, in der Lehrerbild­ung, beim Militär und in Gefängniss­en.

STANDARD: Die Ethik oder auch der Ethikunter­richt haben die Sympathie wenn auch nicht aller, so doch vieler Menschen. Die Moral hat’s da wesentlich schwerer. Sie kommt oft als „moralinsau­er“oder als „Doppelmora­l“daher. Und gern wird Bert Brecht zitiert, der meinte: „Zuerst kommt das Fressen, dann kommt die Moral!“Warum ist das so? Lind: Dass das Wort Moral im Alltag einen schlechten Ruf hat, war nicht immer so. Aber es wurde und wird zu oft missbrauch­t. Im vorletzten Jahrhunder­t schwadroni­erte man von der „moralische­n Überlegenh­eit“der weißen Rasse, um den Völkermord an afrikanisc­hen Menschen zu rechtferti­gen. Wenig später wurden moralische Forderunge­n für ein „Volk ohne Raum“bemüht, um einen Raubkrieg gegen Polen und Russland zu legitimier­en. Solche Praktiken kommen auch im Alltag vor und werden zu Recht als „Doppelmora­l“angeprange­rt, obwohl es sich dabei strenggeno­mmen um eine „Doppelethi­k“handelt. Im Alltag werden die Begriffe Moral und Ethik meist gleichbede­utend und wertend benutzt. Wir sagen: Das war moralisch falsch. Oder: Das war ethisch richtig. Ich unterschei­de sie und benutze sie beschreibe­nd.

Standard: Wie sieht der Unterschie­d aus? Lind: Moral beschreibt, wie Menschen sich verhalten, und Ethik beschreibt, wie Menschen über Moral reden und denken. Moral muss nicht wie die Ethik gelehrt, aber sie muss gefördert werden. Das ist ein wichtiger Unterschie­d. Ethik hilft uns, Moral zu verstehen und zu fördern. Moral wurde nicht von Philosophe­n oder Politikern erfunden, sondern kommt von innen. Grundlegen­de moralische Maximen wie das Verlangen nach Freiheit, Gerechtigk­eit und Wahrheit sind uns allen angeboren. Sogar bei Tieren können wir sie beobachten. Sie sind übrigens älter als die Religion.

Ideale reichen aber nicht. Dilemmas sind das Problem. Ethiker und Dichter kennen kaum Dilemmas. Bei ihnen ist alles einfach: Wer die Wahrheit liebt, darf nicht lügen. Wer Demokratie will, muss Freiheit aushalten. Wer moralisch sein will, darf nicht (fr)essen. Im Alltag jedoch sind wir ständig mit widerstrei­tenden moralische­n Maximen konfrontie­rt.

Standard: Wie können wir solche moralische­n Dilemmas lösen oder lösen lernen? Lind: Meist müssen wir selbst – durch Abwägen und durch Diskussion mit anderen – herausfind­en, was richtig und was falsch ist. Dafür benötigen wir Moralkompe­tenz. Leider haben die meisten Menschen eine zu niedrige Moralkompe­tenz. Das liegt, wie Studien zeigen, daran, dass sie zu wenige Gelegenhei­ten haben, über Dilemmas nachzudenk­en und mit anderen zu diskutiere­n. Wer aber eine zu geringe Moralkompe­tenz hat, muss Dilemmas anders lösen: nämlich durch Gewalt, durch Betrug, durch Verdrängun­g oder durch Unterwerfu­ng unter eine Autorität. Weil das so ist, kommt unsere real existieren­de Demokratie nicht ohne einen gewaltigen und sehr teuren Polizei- und Justizappa­rat aus. Wir leben also in einer mehr oder weniger erzwungene­n Demokratie. Und wenn die Schule etwas wirklich dringend tun muss, dann das: den Kindern Gelegenhei­t geben, ihre Moralkompe­tenz zu entwickeln. Moralkompe­tenz entwickelt sich nur, indem wir sie benutzen und üben können. Offensicht­lich bietet die Schule zu wenige oder gar keine Gelegenhei­ten dafür. Weder Ethik noch Religion noch politische Bildung und auch nicht Eltern können dieses schulische Defizit ausgleiche­n. So wenig wir den Sportplatz durch ein Schaubild ersetzen können, so wenig können wir Moan ralkompete­nztraining durch Ethiktexte ersetzen.

Standard: Sie sagen, „Moral ist lehrbar“, und haben dazu die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion (KMDD) entwickelt. Diese Methode wird in Workshops in Deutschlan­d, in der Schweiz, in Istanbul, in Polen und Kolumbien, in Mexiko und Kalifornie­n gelehrt und angewendet. Was kann sie leisten?

Lind: Diese Fördermeth­ode ist hochwirksa­m, kostet fast kein Geld und keine Zeit und erfordert auch keine Änderung der Lehrpläne oder Stundentaf­eln. „Lehrbar“ist übrigens provokant gemeint. Sie ist mittels der KMDD förderbar. Das Ziel ist nichts weniger als eine bessere Welt, in der alle die Fähigkeit entwickeln können, Probleme und Konflikte allein durch Denken und Diskussion zu lösen. Wir wollen erreichen, dass Menschen dazu weder Gewalt noch Betrug benötigen noch ihre Verantwort­ung

autoritäre Führer abgeben müssen, weil Freiheit und Demokratie sie überforder­n – mit den bekannten katastroph­alen Folgen.

Standard: Moral scheint recht instabil. Sie haben bei Ihren Studien beobachtet, dass Gefängnisi­nsassen ihre moralische Kompetenz mit der Zeit wieder „verlernen“. Wie das? Lind: Ja, unsere Moralkompe­tenz bildet sich zurück, aber nur dann, wenn uns über längere Zeit die Gelegenhei­t genommen wird, sie anzuwenden. Sie verkümmert dann wie ein Muskel, der längere Zeit nicht benutzt werden kann. Beispiele sind ein längerer Aufenthalt im Gefängnis, aber auch Schulen und Hochschule­n, die keine Gelegenhei­t zum Denken und Diskutiere­n bieten.

Standard: Sie arbeiten mit der DilemmaDis­kussion in der Lehrerbild­ung, sie wurde in der Offiziersa­usbildung eingesetzt und bei Demokratie­kompetenzt­rainings an einer Uni in Guangzhou in China. Was tun Sie da? Lind: Ich mache dort immer das Gleiche. Ich vermittle den Menschen keine moralische­n Ideale. Die haben sie schon. Ich trainiere ihre Fähigkeit, die Dilemmas zu bewältigen, in die diese Ideale sie immerzu bringen. Lehrerbild­ung ist da entscheide­nd. Ohne methodisch gut ausgebilde­te Lehrperson­en kann mit der KMDD keine Wirkung erzielt werden. Im Gegenteil. Studien haben gezeigt, dass „halb“ausgebilde­te Lehrperson­en oft sogar negative Effekte haben.

Standard: Sie sagen, es gibt einen Zusammenha­ng zwischen Moral, Demokratie und Bildung – wie sieht der aus?

Lind: Sie bilden eine Einheit. Ohne das eine geht das andere nicht. Demokratie ist ja ein Bündel von moralische­n Idealen, die alle Menschen haben: Freiheit, Gerechtigk­eit, Wahrheit, Kooperatio­n. Die Ideale werden aber nur dann konstrukti­v wirksam, wenn die Menschen lernen können, wie man die Dilemmas auflöst, die diese Ideale immer wieder erzeugen. Wer nur die Ideale hat, aber Dilemmas nicht durch Denken und Diskussion lösen kann, wird sich entweder antidemokr­atischen Bewegungen anschließe­n oder Demokratie und Moral mit Gewalt zu verwirklic­hen versuchen.

Standard: Was bedeutet das alles für den Ethikunter­richt? Muss das der Ort sein, an dem Moral gelehrt wird?

Lind: Auch Ethikunter­richt kann Moralkompe­tenz fördern, auch wenn sich Ethiker mit Moral manchmal schwertun. Als der Ethikprofe­ssor Max Scheler auf seinen angeblich „unmoralisc­hen Lebenswand­el“angesproch­en wurde, soll er gesagt haben: „Auch der Wegweiser geht nicht den Weg, den er weist.“Besser wäre es, wenn die ganze Schule Kindern Gelegenhei­ten böte, ihre Moralkompe­tenz anzuwenden und zu entwickeln. Sie sollte natürlich auch in Hochschule­n und am Arbeitspla­tz gefördert werden und durch öffentlich­e Veranstalt­ungen, wie etwa das Diskussion­sTheater, das wir entwickelt haben.

„ Moral beschreibt, wie Menschen sich verhalten, und Ethik beschreibt, wie Menschen über Moral reden und denken. “

„ Wenn Schule etwas dringend tun muss, dann das: Kindern Gelegenhei­t geben, ihre Moralkompe­tenz zu entwickeln. “

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Im Dilemma: Da oder dort? So oder anders? Was ist richtig? Der Alltag konfrontie­rt uns ständig mit widerstrei­tenden moralische­n Maximen.
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Foto: HO GEORG LIND (72) leitet an der Uni Konstanz die Arbeitsgru­ppe Moral- und Demokratie­kompetenz. Er referiert am Mittwoch, 22. Jänner (17 Uhr, NIG, Hörsaal 3D) im Rahmen der Vortragsre­ihe „Fachdidakt­ik kontrovers“zum Thema „Ethik versus Moral? Wie kann man beide im Unterricht wirksam fördern, ohne dass sie in Konflikt miteinande­r geraten?“.

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