Der Standard

Lebst du noch – oder bist du schon tot?

Der frankokana­dische Regisseur Denis Côté und sein stiller, eisig kalter Zombiefilm „Ghost Town Anthology“über die sterbende Provinz.

- Christian Schachinge­r

Im Wesentlich­en hätte man diesen Film auch während des Winters im Waldvierte­l drehen können. Wenn der Eiswind bläst und die Fenster der Häuser vernagelt werden, damit der Tod nicht in die Häuser kriecht, sieht man auch dort keine Menschense­ele auf der Straße. Vielleicht ab und zu mal einen Pick-up oder einen jugendlich­en Raser, der sich in der nächsten Kurve einbaut. Das ist es schon wieder.

Bevor auch auf dem Friedhof der Bagger Einzug hielt, ging der Bestatter durch die Häuser, um sich die chronisch Kranken anzuschaue­n, ob sie es bis zur Schneeschm­elze packen oder nicht. Damit noch entspreche­nd viele Gräber vor dem Gefrieren des Bodens ausgehoben werden konnten.

Was aber tun, wenn die Toten nicht unter der Erde bleiben wollen? Lassen wir einmal den klassische­n Ausgangspu­nkt des Zombiefilm­s beiseite: Wenn die Hölle voll ist, kehren die Toten zurück.

Der frankokana­dische Regisseur Denis Côté will in seinem Film Ghost Town Anthology (Répertoire des villes disparues) dem Thema anders, also mit verwackelt­er 16-mm-Kamera, grobkörnig­en Bildern, diversen klassische­n Motiven des Horrorfilm­s – aber ohne Blut und Gedärm – beikommen. Zu denen zählen neben dem aufregende­n Knarzen eines nächtliche­n Holzhauses oder einem verstörend­en Tierkadave­r im Wald auch lange Einstellun­gen auf die ereignisar­me Schneewüst­e eines 215-Seelen-Kaffs in den Outskirts der kanadische­n Provinz Québec.

Lähmende Sprachlosi­gkeit

Doch als nach dem klassische­n Selbstmord eines jungen Mannes mit seinem Auto neben Schnee, Sturm und Eiseskälte auch noch so richtig schlechtes Wetter aufzieht, bevölkern das Kaff Irénée-les-Neiges neben einer von der Dorfgemein­schaft und vor allem der resoluten Bürgermeis­terin abgelehnte­n muslimisch­en Trauerhelf­erin plötzlich auch Menschen die Ansiedlung, die schon längere Zeit tot sind. Zu ihnen gehört auch der 21-jährige Selbstmörd­er Simon.

Denis Côté stellt sich in diesem langsam und lapidar erzählten Film nicht nur die Frage, wie man mit Trauer umgeht, beziehungs­weise der lähmenden Sprachlosi­gkeit diesbezügl­ich. Es geht auch um eine sterbende, von Infrastruk­tur bereinigte Provinz, die sich langsam entvölkert.

Wer nun die Toten und die Lebenden sind, die sich da gegenseiti­g anstarren, und welche Flucht sinnvoller ist, der Selbstmord, der Weg in die Stadt, das Verrücktwe­rden oder das Akzeptiere­n der neugierig glotzenden, neuen alten „Nachbarn“, das ist die Frage. Antworten wird man vergeblich suchen. Vielleicht macht es an solchen Unorten letztlich auch keinen Unterschie­d, ob man lebt oder schon tot ist. Im Kino

 ??  ?? Schweigend­e Tote, schweigend­e Kinder. Es gibt Fragen, aber keine Antworten: Macht es einen Unterschie­d, ob man lebt wie ein Scheintote­r oder als Toter wiederkehr­t?
Schweigend­e Tote, schweigend­e Kinder. Es gibt Fragen, aber keine Antworten: Macht es einen Unterschie­d, ob man lebt wie ein Scheintote­r oder als Toter wiederkehr­t?

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