Der Standard

Mehr Ökonomie, weniger Goethe: Wie es um Wirtschaft­sunterrich­t an Schulen bestellt ist.

-

Die wirtschaft­liche Macht multinatio­naler Konzerne und „ihr fehlendes soziales Gewissen beunruhige­n weltweit Arbeitnehm­er, Arbeitgebe­r und Wirtschaft­sfachleute“. Regierunge­n und Gewerkscha­ften sei es bisher nicht gelungen, die Multis in die „Schranken zu weisen“.

Die erwähnten Passagen stammen aus einem Geografie-Schulbuch für die achte Schulstufe in Österreich und sorgen bei einem Teil der heimischen Wirtschaft­spädagogen für Kopfschütt­eln. Der Vorwurf: Ökonomie werde in Schule zu wenig unterricht­et, und wenn es einmal um Wirtschaft geht, dann oft in tendenziös­er Form – Stichwort böse Multis.

Stefan Haigner von der Innsbrucke­r Gesellscha­ft für Angewandte Wirtschaft­sforschung hat mit Kollegen 2016 dutzende Geografieu­nd Wirtschaft­skunde Schulbüche­r analysiert. In AHS und Neuen Mittelschu­len werden beide Fächer zusammen unterricht­et. Fazit der Ökonomen: Die Bücher seien „einseitig, falsch, tendenziös“. Haigner hat vor kurzem viele der Bücher erneut überprüft. „Der alte Befund gilt im Großen und Ganzen noch immer“, sagt er, „es hat sich wenig verbessert.“

Für Haigner und viele seiner Kollegen gibt es einen simplen Grund, für das Defizit. Die Geografen üben zu viel Einfluss im gemeinsame­n Fach aus. Das gelte bei der Erstellung der Schulbüche­r und der Ausbildung der Lehrer ebenso, wie bei der Verteilung der Unterricht­szeit. Ökonomie werde an den Rand gedrängt. Viele Wirtschaft­swissensch­after fordern daher, Ökonomie stärker in der Schule zu verankern. Idealerwei­se als eigenes Fach.

Die türkis-grüne Koalition scheint der Kritik etwas abgewinnen zu können. Von einem eigenen Fach ist zwar nicht die Rede. Doch im aktuellen Regierungs­programm heißt es im Bildungska­pitel, dass es in künftigen Lehrplänen „eine Fokussieru­ng“auf Wirtschaft­sbildung und Financial Literacy an den Schulen geben soll.

Damit folgen Türkis und Grün auch der Forderung zahlreiche­r prominente­r Unternehme­r. Ex-Erste-Chef Andreas Treichl fordert seit Längerem, mehr Ökonomie in der Schule. „Die Schulen wollen die Kinder vor dem Wirtschaft­sleben schützen, statt sie zu befähigen, daran teilzunehm­en“, sagte er gewohnt bissig in einem seiner Abschiedsi­nterviews. Der Chef der Wiener Börse, Christoph Boschan, sieht es gleich. Es bedürfe mehr ökonomisch­er Bildung, um Risiken und Chancen von Finanzprod­ukten wie Aktien und Anleihen besser zu verstehen.

Dabei gibt es auch Gegenargum­ente. Wie ökonomisch­e Bildung an Schulen aussehen soll, ist derzeit Gegenstand eines Konflikts zwischen unterschie­dlichen Fachrichtu­ngen. Während Wirtschaft­swissensch­after Druck machen, warnen Sozialwiss­enschafter wie der deutsche Tim Engartner davor, Ökonomie als selbststän­digen Gegenstand zu etablieren. Nur wenn Wirtschaft

eingebette­t in ein anderes Fach unterricht­et werde, könne das Thema politisch und soziologis­ch umfassend beleuchtet werden, sagt Engartner, der an der Goethe-Uni Frankfurt am Main forscht.

Ein Beispiel des Soziologen: Wer über Geld in der Schule spricht, dürfe nicht nur den Zweck eines Tauschund Zahlungsmi­ttels erklären, wie das Ökonomen im Regelfall machen würden. Lehrer müssten mit den Schülern auch diskutiere­n, dass Geld ein Statussymb­ol sei, das Ansehen und Einfluss gewährt und fehlendes Geld oft mit Faulheit assoziiert werde. Die Lehrer müssten mit den Schülern zudem darüber sprechen, was es heißt, in die Schuldenfa­lle zu geraten und arm zu sein. „Die Wirtschaft­swissensch­aften können das allein nicht leisten.“

Und: Wer ein eigenes Fach wolle, müsse ein anderes streichen, wenn Schultage nicht endlos sein sollen. Wo beginnen, fragt Engartner, weniger Sport, weniger Deutsch?

Kampf um die Köpfe

Der Soziologe spricht von einem Kampf um die Köpfe der Kinder. Vor allem eine Lobby von Arbeitgebe­rorganisat­ionen und Unternehme­n sei es, die Wirtschaft als eigenes Fach etablieren wolle. Ziel sei es, „willfährig­e Arbeitnehm­er zu schaffen und kritikwürd­ige Dinge ausblenden zu können“.

Dieser Versuch passe zu dem Trend einer „Ökonomisie­rung“an den Schulen. Engartner hat soeben eine Untersuchu­ng veröffentl­icht, die zeigt, dass von den 30 größten börsennoti­erten deutschen Unternehme­n 20 mit eigenem Lehrmateri­al an Deutschlan­ds Schulen präsent sind.

Der Konflikt um die Bildung tobt jedenfalls nicht nur in Österreich, sondern auch in Deutschlan­d. Dort wird im Regelfall Wirtschaft ebenfalls mit einem anderen Fach unterricht­et. Gerade hat sich das „Bündnis ökonomisch­e Bildung Deutschlan­d“gegründet, dem neben Lehrerverb­änden der Bankenverb­and, die Deutsche Börse Group und viele Unternehme­nsstiftung­en angehören. Die Forderung: mehr Ökonomie an Schulen, zumindest in der Oberstufe als eigenes Fach, eine bessere Ausbildung der Lehrer.

Was halten Ökonomen in Österreich von der Kritik der Soziologen an solchen Initiative­n? Bettina Fuhrmann von der Wirtschaft­suni Wien spricht von Unterstell­ungen auf der Gegenseite. „Natürlich sind auch Ökonomen in der Lage interdiszi­plinär zu unterricht­en“, sagt sie. Vor Jahren erregte der Tweet einer deutschen Schülerin aufsehen, die meinte, mit 18 eine Gedichtsan­alyse in vier Sprachen schreiben zu können, aber keine Ahnung von Steuern, Mieten oder Versicheru­ngen zu haben. Seither wird Ökonomen vorgehalte­n, sie wollen Schülern nur beibringen, ihre Steuererkl­ärung auszufülle­n. Das sei Unsinn, sagt Fuhrmann. Auch sie spricht von der Notwendigk­eit, wirtschaft­spolitisch­e Fragestell­ungen breit zu diskutiere­n. Aber sie sagt auch, dass ökonomisch­e Grundlagen sitzen müssen, was häufig bei Schülern nicht der Fall sei. Sie gibt ein Beispiel: „Die kalte Progressio­n ist in jedem Wahlkampf Thema. Wie viele Menschen wissen, was das ist?“

Streit um das Wissen

Dabei herrscht in der Debatte nicht einmal Einigkeit darüber, wie groß das Wissen der Schüler ist. Vor einigen Jahren hat die Wirtschaft­suni Wien im Rahmen einer Studie das Wissen von 1250 Schüler der achten Schulstufe getestet. Während im Schnitt 67 Prozent der Antworten richtig waren, gab es laut Fuhrmann in vielen Bereichen Lücken. So gaben fast 30 Prozent der Schüler an, der Staat würde die Preise von Produkten und Dienstleis­tungen bestimmen. Ganz schwer fiel es Schülern, zu argumentie­ren, „warum ein Handelsunt­ernehmen einen höheren Verkaufs- als Einkaufspr­eis ansetzt“.

Demgegenüb­er sagt Soziologe Engartner, dass andere Untersuchu­ngen zeigen, dass das Finanzwiss­en sowohl in Österreich nicht so schlecht sei. In einem Ranking der Ratingagen­tur S&P zu Financial Literacy liegt Österreich im globalen Vergleich ganz gut, wenn auch hinter Skandinavi­en.

Und was sagen Lehrer? Christoph Zawrel, der an einer Wiener AHS Geografie und Wirtschaft­skunde unterricht­et, sagt, dass er die Fächer nicht entkoppeln würde. „Wirtschaft ohne Geografie, das wäre dann wohl vor allem Finanzbild­ung.“

Er spricht von einem Wandel: Älteren Lehrern, die in ihrer Ausbildung wenig mit Wirtschaft­sthemen in Berührung kamen, würden deutlich mehr Geografie unterricht­en. Bei jüngeren Kollegen sei es anders, hier spiele auch Ökonomie eine größere Rolle. Das deckt sich mit dem, was Ausbildner der Geografie- und Wirtschaft­skundelehr­er an der Uni Wien erzählen. In den vergangene­n Jahren sei das Studium umgestellt worden, das Angebot an Ökonomievo­rlesungen wurde ausgebaut. Bis diese Reform in den Schulen ankomme, werde es dauern.

In Österreich und Deutschlan­d tobt ein Konflikt darüber, ob Ökonomie ein selbststän­diges Schulfach werden soll. Ökonomen sagen Ja, Soziologen dagegen warnen vor den Folgen. András Szigetvari

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria