Iraker sehnen sich nach einem neuen System
Demonstranten wünschen sich einen säkularen Staat und ein Verbot der Milizen
Auf dem Tahrir-Platz werden so viele althergebrachte Normen gebrochen“, berichtet Schluwa Sama, eine kurdischdeutsche Schriftstellerin, die am Montag auf Einladung des Vienna Institute for International Dialogue and Cooperation (VIDC) über die aktuellen Proteste im Irak gesprochen hat. Nichts Geringeres als eine soziale Revolution sei auf dem von Zelten übersäten Platz auf der rechten Tigrisseite in der irakischen Hauptstadt Bagdad im Gange. „Die Leute dort leben vor, was sie sich auch vom irakischen Staat wünschen“, sagt sie im Gespräch mit dem STANDARD.
Seit Oktober halten Demonstranten den zentralen Kreisverkehr besetzt, der – wie so viele in der arabischen Welt – Befreiungsplatz heißt. Sama (31) hat die Proteste von Beginn an begleitet. Sie richten sich gegen die soziale Misere und die Korruption im Irak, gegen die Allgegenwart der konfessionellen Zersplitterung in Schiiten, Sunniten und Kurden sowie gegen die Macht der mehr als 60
Milizen, die das Land untereinander aufgeteilt haben. 600 Menschen, so wird geschätzt, wurden bei Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften bereits getötet. „Das bedeutet auch, dass viele nicht mehr zurück in ihr altes Leben können, weil ihre Freunde dann umsonst gestorben wären“, sagt Sama, die täglich mit den Demonstranten in Bagdad in Kontakt steht.
Wer auf dem Tahrir-Platz aller ausharrt? „Es sind sehr breite Schichten der Gesellschaft, von Schülern über Studenten bis zu Arbeitern, Beamten und Tuk-TukFahrern, also der Unterschicht“, berichtet Sama. „Man gibt aufeinander acht, diskutiert miteinander.“Weil der Staat selbst Grundbedürfnisse wie Elektrizität oder Straßenreinigung nicht decken kann, hätten sich viele Iraker politisiert, erklärt Sama, die an der britischen Universität Exeter über die politische Ökonomie des Irak forscht. „Schüler fragen sich, was sie in der Schule sollen, weil danach ohnehin nur Arbeitslosigkeit wartet.“
Was die aktuellen Proteste von jenen unterscheidet, die im Irak seit 2011 immer wieder aufflammen? „Bisher konnten die Parteien, vor allem jene von Muqtada al-Sadr (schiitischer Geistlicher, der vor allem in Bagdads Armenvierteln Unterstützer hat, Anm.), die Demonstranten mit kleinen Reformen ruhigstellen oder für sich vereinnahmen. Jetzt sind die Demonstranten viel radikaler. Sie wollen gar keine Parteien mehr auf dem Platz haben, sondern wünschen sich ein völlig neues System“, sagt Sama.
Blick nach Teheran
Wie dieses aussehen könnte, darüber sei man sich aber nicht ganz einig. „Konsens ist, dass man sich einen zivilen Staat wünscht, in dem die Milizen verboten sind. Der Staat soll säkular sein, weil der Islam von der Elite früher oft genutzt wurde, um ihre korrupte Politik durchzusetzen. Und die Leute wollen als Bürger wahrgenommen werden und nicht nach ihrer Konfession“, berichtet Sama.
Dass nun auch im Iran nach dem Abschuss der ukrainischen Passagiermaschine gegen das Regime demonstriert wird, mache vielen Irakern Mut, sagt die Forscherin. „Die Leute wollen nicht, dass ihr Land zum Schlachtfeld zwischen den USA und dem Iran wird.“