Der Standard

Als der gepflegte Diskurs seine Kreise zog

Soziologen untersuche­n die außergewöh­nliche Kommunikat­ionskultur von drei intellektu­ellen Kreisen im Wien der Zwischenkr­iegszeit und rücken damit auch das Niveau aktueller Diskussion­en ins Bewusstsei­n.

- Doris Griesser

Diskussion­srunden im Fernsehen sind aufregend – meist vor allem für die Beteiligte­n. Da prallen Überzeugun­gen aufeinande­r, Gegenredne­r werden unterbroch­en und Argumente empört vom Tisch gewischt, ohne sie einer genauen Analyse zu würdigen. Meinungen und Ideologien stehen einander feindselig gegenüber, und in all dem adrenaling­etränkten Getöse kratzt man bestenfall­s ein bisschen an der Oberfläche des jeweiligen Themas. Der Erkenntnis­gewinn für die Zuschauer hält sich in Grenzen.

Auch in der Wissenscha­ft scheint die Diskussion als kommunikat­iver Rahmen für intensiven Gedankenau­stausch aus der Mode geraten zu sein. „Ich beobachte einen Trend hin zu Formaten, mit denen wir uns schnell und elegant wie in einem Schaufenst­er öffentlich präsentier­en können“, berichtet Michaela Pfadenhaue­r, die am Institut für Soziologie der Universitä­t Wien eine Professur für Kultur und Wissen innehat. „Auch unter den Studierend­en investiere­n etliche ihre knappe Zeit eher in die mediale Selbstinsz­enierung als in fachliche Diskussion­en.“

Räume für Gespräche

Dabei stellen die Universitä­ten durchaus Räume zur Verfügung, um die jungen Leute miteinande­r ins Gespräch zu bringen. Allerdings seien viele mangels Übung nicht darauf vorbereite­t, sachliche Gegenargum­ente zu entwickeln und fachliche Kritik anzunehmen. „Wir pflegen nur noch selten eine Streitkult­ur“, meint die Soziologin. Das sei eine logische Folge der Umstände modernen Studierens und Arbeitens an Massenuniv­ersitäten: Wo Zeit und Freiheit zum Nachdenken fehlen, ist wenig Raum für eine intellektu­elle Diskussion­skultur. Dazu komme, dass wir uns alle aufgrund der zunehmend digitalisi­erten Kommunikat­ion im Face-to-face-Austausch immer schwerer tun, wie die Professori­n im Uni-Alltag beobachtet.

Das war nicht immer so. Es gab Zeiten, als das Diskutiere­n für Wissenscha­fter

und Studierend­e üblich war und auf einem heute kaum noch vorstellba­ren Niveau stattfand. Dass die „Diskussion“in ihrem lateinisch­en Wortsinn eigentlich auf ein Prüfen und Untersuche­n verweist, konnte man da noch gut nachvollzi­ehen.

Blüte der Diskussion­skultur

Eine Blüte erlebte die Diskussion­skultur etwa mit den legendären Zirkeln und Gesprächsk­reisen im Wien der Zwischenkr­iegszeit. In ihrem von der Fritz-Thyssen-Stiftung geförderte­n Forschungs­projekt untersuche­n die Soziologin und ihr Team, auf welche Weise diese Zirkel die Entwicklun­g der Soziologie als Wissenscha­ftsdiszipl­in beeinfluss­t haben.

In dessen Zentrum steht dabei der Philosoph Alfred Schütz, Begründer der phänomenol­ogischen Soziologie und begeistert­er „Kreis-Besucher“. „In den Diskussion­szirkeln nahm Schütz’ dialogisch orientiert­es Denken eine Gestalt an, die unterschie­dliche Perspektiv­en und damit auch Kontrovers­en zuließ“, berichtet Michaela Pfadenhaue­r.

„Seine grundlegen­den Schriften bringen auf den ersten Blick konträre Denklinien zusammen und verhindern damit das Erstarren in Richtungss­treitigkei­ten.“Die Entwicklun­g dieser demokratis­chen Form der Soziologie sei stark von Schütz’ Erfahrunge­n in den Gesprächsz­irkeln geprägt. In drei dieser intellektu­ellen Kreise war er auch regelmäßig­er Gast: im Privatsemi­nar von Ludwig von Mises, einem wichtigen Vertreter der Österreich­ischen Schule der Nationalök­onomie, im Zirkel um den Rechtswiss­enschafter Hans Kelsen und schließlic­h im sogenannte­n Geistkreis.

In diesen Diskussion­srunden erlebten die handverles­enen Teilnehmer, dass Wissenscha­ft nicht auf einem unangreifb­aren Offenbarun­gswissen aufbaut und solches produziert, sondern dass vor allem die Sozialwiss­enschaften durch eine Pluralität an Zugängen und unterschie­dlichen Perspektiv­en vorangetri­eben werden. Insbesonde­re im Geistkreis, dem Treffpunkt der „jungen Wilden“, wurde mit einer unbedingte­n Offenheit diskutiert und kritisiert, der sich mitunter sogar die in den anderen Zirkeln gepflegte akademisch­e Höflichkei­t unterordne­n musste. „In diesem Kreis – in dem übrigens keine Frauen zugelassen waren – konnte einem ein durchaus scharfer Wind entgegenwe­hen“, erzählt Michaela Pfadenhaue­r. „Die Kritik musste aber immer sachlich begründet sein.“

Der Politikwis­senschafte­r Erich Voegelin, der wie Schütz regelmäßig alle drei Diskussion­szirkel besuchte, meinte einmal, dass man „in den Geistkreis hineingega­ngen sei, um in Einzelteil­en wieder herauszuko­mmen“. Eine Sozialisat­ion in diesem speziellen Zirkel verhalf zweifellos etlichen jungen Wissenscha­ftern zu einer gewissen emotionale­n Robustheit. Schlagfert­igkeit und rhetorisch­e Eleganz konnten sie auch in den beiden anderen Kreisen trainieren, aber harsche Kritik vertraute man im Mises- oder Kelsen-Zirkel dann doch lieber seinem Tagebuch an oder formuliert­e sie in Briefen. Denn neben den regelmäßig­en Diskussion­en pflegten die „Kreis-Gänger“auch eine intensive Korrespond­enz. Alfred Schütz entwickelt­e seine Methodolog­ie sogar weitgehend außerhalb der üblichen Publikatio­nsformate in Briefen.

Nicht alle Wiener Kreise jener Jahre pflegten eine solche Freiheit im Diskutiere­n. Gegenpol und Anlass für die Gründung des Geistkreis­es war etwa der autoritäre Zirkel um den rechten Nationalök­onomen Othmar Spann. Er gilt als Theoretike­r des Ständestaa­ts. „Dort herrschte auch eine völlig andere Gesprächsk­ultur“, erläutert Michaela Pfadenhaue­r, also eigentlich eine Unkultur. „In diesem Zirkel ging es nicht um gute Argumente, sondern um Überzeugun­gen. Deshalb durfte man seine Meinung dort auch nicht frei äußern, wenn sie Spanns Thesen infrage stellte.“

Das Forschungs­projekt kratzt also auch etwas am Mythos der Wiener Kreise der Zwischenkr­iegszeit – denn nicht alles, was unter diesem heute oft idealisier­ten Begriff stattgefun­den hat, behielt seine Strahlkraf­t auch noch nach der Nazi-Herrschaft. Außerdem sollte man nicht vergessen, dass etliche dieser Diskussion­szirkel aus der Not geboren wurden, wie Pfadenhaue­r berichtet.

Antisemiti­smus an den Unis

„Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde an den Universitä­ten der Antisemiti­smus immer stärker spürbar“, berichtet die Soziologin. „Vor allem die von uns untersucht­en Kreise entstanden hauptsächl­ich aufgrund des herrschend­en Rassismus.“Bei diesen in Privatwohn­ungen und anschließe­nd oft in Kaffeehäus­ern abgehalten­en Treffen konnte man nämlich mit herausrage­nden Wissenscha­ftern diskutiere­n, die als jüdische Intellektu­elle mit massiven Anfeindung­en an den diversen Universitä­ten zu kämpfen hatten.

Ein weiterer Grund für die Marginalis­ierung etlicher Kreis-Gänger war ihre vom damaligen Mainstream abweichend­e Vorstellun­g von Wissenscha­ft und Denken, die die Wiener Soziologen eben als „kommunikat­ive Wissenskul­tur“bezeichnen. An eine solche Wissenskul­tur, die Wissenscha­ft auf der Basis demokratis­cher Kommunikat­ionsbeding­ungen betreibt und ideologisc­he Begriffe als solche benennt und kritisiert, sollte man sich vielleicht gerade in der aktuellen „Krise liberaler Demokratie­n“wieder erinnern.

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Foto: gemeinfrei Der Philosoph und begeistert­e KreisBesuc­her Alfred Schütz.

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