Als der gepflegte Diskurs seine Kreise zog
Soziologen untersuchen die außergewöhnliche Kommunikationskultur von drei intellektuellen Kreisen im Wien der Zwischenkriegszeit und rücken damit auch das Niveau aktueller Diskussionen ins Bewusstsein.
Diskussionsrunden im Fernsehen sind aufregend – meist vor allem für die Beteiligten. Da prallen Überzeugungen aufeinander, Gegenredner werden unterbrochen und Argumente empört vom Tisch gewischt, ohne sie einer genauen Analyse zu würdigen. Meinungen und Ideologien stehen einander feindselig gegenüber, und in all dem adrenalingetränkten Getöse kratzt man bestenfalls ein bisschen an der Oberfläche des jeweiligen Themas. Der Erkenntnisgewinn für die Zuschauer hält sich in Grenzen.
Auch in der Wissenschaft scheint die Diskussion als kommunikativer Rahmen für intensiven Gedankenaustausch aus der Mode geraten zu sein. „Ich beobachte einen Trend hin zu Formaten, mit denen wir uns schnell und elegant wie in einem Schaufenster öffentlich präsentieren können“, berichtet Michaela Pfadenhauer, die am Institut für Soziologie der Universität Wien eine Professur für Kultur und Wissen innehat. „Auch unter den Studierenden investieren etliche ihre knappe Zeit eher in die mediale Selbstinszenierung als in fachliche Diskussionen.“
Räume für Gespräche
Dabei stellen die Universitäten durchaus Räume zur Verfügung, um die jungen Leute miteinander ins Gespräch zu bringen. Allerdings seien viele mangels Übung nicht darauf vorbereitet, sachliche Gegenargumente zu entwickeln und fachliche Kritik anzunehmen. „Wir pflegen nur noch selten eine Streitkultur“, meint die Soziologin. Das sei eine logische Folge der Umstände modernen Studierens und Arbeitens an Massenuniversitäten: Wo Zeit und Freiheit zum Nachdenken fehlen, ist wenig Raum für eine intellektuelle Diskussionskultur. Dazu komme, dass wir uns alle aufgrund der zunehmend digitalisierten Kommunikation im Face-to-face-Austausch immer schwerer tun, wie die Professorin im Uni-Alltag beobachtet.
Das war nicht immer so. Es gab Zeiten, als das Diskutieren für Wissenschafter
und Studierende üblich war und auf einem heute kaum noch vorstellbaren Niveau stattfand. Dass die „Diskussion“in ihrem lateinischen Wortsinn eigentlich auf ein Prüfen und Untersuchen verweist, konnte man da noch gut nachvollziehen.
Blüte der Diskussionskultur
Eine Blüte erlebte die Diskussionskultur etwa mit den legendären Zirkeln und Gesprächskreisen im Wien der Zwischenkriegszeit. In ihrem von der Fritz-Thyssen-Stiftung geförderten Forschungsprojekt untersuchen die Soziologin und ihr Team, auf welche Weise diese Zirkel die Entwicklung der Soziologie als Wissenschaftsdisziplin beeinflusst haben.
In dessen Zentrum steht dabei der Philosoph Alfred Schütz, Begründer der phänomenologischen Soziologie und begeisterter „Kreis-Besucher“. „In den Diskussionszirkeln nahm Schütz’ dialogisch orientiertes Denken eine Gestalt an, die unterschiedliche Perspektiven und damit auch Kontroversen zuließ“, berichtet Michaela Pfadenhauer.
„Seine grundlegenden Schriften bringen auf den ersten Blick konträre Denklinien zusammen und verhindern damit das Erstarren in Richtungsstreitigkeiten.“Die Entwicklung dieser demokratischen Form der Soziologie sei stark von Schütz’ Erfahrungen in den Gesprächszirkeln geprägt. In drei dieser intellektuellen Kreise war er auch regelmäßiger Gast: im Privatseminar von Ludwig von Mises, einem wichtigen Vertreter der Österreichischen Schule der Nationalökonomie, im Zirkel um den Rechtswissenschafter Hans Kelsen und schließlich im sogenannten Geistkreis.
In diesen Diskussionsrunden erlebten die handverlesenen Teilnehmer, dass Wissenschaft nicht auf einem unangreifbaren Offenbarungswissen aufbaut und solches produziert, sondern dass vor allem die Sozialwissenschaften durch eine Pluralität an Zugängen und unterschiedlichen Perspektiven vorangetrieben werden. Insbesondere im Geistkreis, dem Treffpunkt der „jungen Wilden“, wurde mit einer unbedingten Offenheit diskutiert und kritisiert, der sich mitunter sogar die in den anderen Zirkeln gepflegte akademische Höflichkeit unterordnen musste. „In diesem Kreis – in dem übrigens keine Frauen zugelassen waren – konnte einem ein durchaus scharfer Wind entgegenwehen“, erzählt Michaela Pfadenhauer. „Die Kritik musste aber immer sachlich begründet sein.“
Der Politikwissenschafter Erich Voegelin, der wie Schütz regelmäßig alle drei Diskussionszirkel besuchte, meinte einmal, dass man „in den Geistkreis hineingegangen sei, um in Einzelteilen wieder herauszukommen“. Eine Sozialisation in diesem speziellen Zirkel verhalf zweifellos etlichen jungen Wissenschaftern zu einer gewissen emotionalen Robustheit. Schlagfertigkeit und rhetorische Eleganz konnten sie auch in den beiden anderen Kreisen trainieren, aber harsche Kritik vertraute man im Mises- oder Kelsen-Zirkel dann doch lieber seinem Tagebuch an oder formulierte sie in Briefen. Denn neben den regelmäßigen Diskussionen pflegten die „Kreis-Gänger“auch eine intensive Korrespondenz. Alfred Schütz entwickelte seine Methodologie sogar weitgehend außerhalb der üblichen Publikationsformate in Briefen.
Nicht alle Wiener Kreise jener Jahre pflegten eine solche Freiheit im Diskutieren. Gegenpol und Anlass für die Gründung des Geistkreises war etwa der autoritäre Zirkel um den rechten Nationalökonomen Othmar Spann. Er gilt als Theoretiker des Ständestaats. „Dort herrschte auch eine völlig andere Gesprächskultur“, erläutert Michaela Pfadenhauer, also eigentlich eine Unkultur. „In diesem Zirkel ging es nicht um gute Argumente, sondern um Überzeugungen. Deshalb durfte man seine Meinung dort auch nicht frei äußern, wenn sie Spanns Thesen infrage stellte.“
Das Forschungsprojekt kratzt also auch etwas am Mythos der Wiener Kreise der Zwischenkriegszeit – denn nicht alles, was unter diesem heute oft idealisierten Begriff stattgefunden hat, behielt seine Strahlkraft auch noch nach der Nazi-Herrschaft. Außerdem sollte man nicht vergessen, dass etliche dieser Diskussionszirkel aus der Not geboren wurden, wie Pfadenhauer berichtet.
Antisemitismus an den Unis
„Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde an den Universitäten der Antisemitismus immer stärker spürbar“, berichtet die Soziologin. „Vor allem die von uns untersuchten Kreise entstanden hauptsächlich aufgrund des herrschenden Rassismus.“Bei diesen in Privatwohnungen und anschließend oft in Kaffeehäusern abgehaltenen Treffen konnte man nämlich mit herausragenden Wissenschaftern diskutieren, die als jüdische Intellektuelle mit massiven Anfeindungen an den diversen Universitäten zu kämpfen hatten.
Ein weiterer Grund für die Marginalisierung etlicher Kreis-Gänger war ihre vom damaligen Mainstream abweichende Vorstellung von Wissenschaft und Denken, die die Wiener Soziologen eben als „kommunikative Wissenskultur“bezeichnen. An eine solche Wissenskultur, die Wissenschaft auf der Basis demokratischer Kommunikationsbedingungen betreibt und ideologische Begriffe als solche benennt und kritisiert, sollte man sich vielleicht gerade in der aktuellen „Krise liberaler Demokratien“wieder erinnern.