Der Standard

Das Pub, der Mann und sein Johnson

Premiere in St. Pölten: Warum Choreograf Lloyd Newson sein Stück „Enter Achilles“heute wieder zeigt

- Helmut Ploebst

Er wird definitiv nie mehr ein neues Stück produziere­n. Darauf beharrt Lloyd Newson. Bis 2016 hat der aus Australien stammende Wahlbrite in London drei Jahrzehnte lang sein berüchtigt-radikales DV8 Physical Theatre geleitet. 2013 war er von einem britischen Kritikerko­mitee in den Kreis der „100 einflussre­ichsten Personen in der Kunst der vergangene­n 100 Jahre“aufgenomme­n worden.

Exakt ein Vierteljah­rhundert nach der Uraufführu­ng von Enter Achilles in der von Brigitte Fürle bei den Wiener Festwochen kuratierte­n Reihe Hoppla, wir leben, präsentier­t Newson eine Neubearbei­tung der legendären Choreograf­ie. Die Premiere mit neun Tänzern des Londoner Ballet Rambert zeigt Fürle jetzt am Freitag im Festspielh­aus St. Pölten.

Enter Achilles gibt tiefe Einblicke in die Sitten einer misogynen, schwulenfe­indlichen Männerwelt am Pubtresen. Getanzt wird zwischen Bier, Posen und Brutalität. Auf die „netten bewegten Tapeten“

einer formschöne­n Ästhetik hat Newson immer schon verzichtet: „Ich bin mehr an Inhalten interessie­rt gewesen, daran, mich voranzubri­ngen.“Dann habe er den permanente­n Druck, wie ihn die Leitung einer weltbekann­ten Company mit sich bringt, sattgehabt. Die Reinszenie­rung von Enter Achilles ist bis dato eine Ausnahme von der Regel. Nun lebt er eine seit 25 Jahren bestehende Partnersch­aft oder besucht die betagten Eltern in Australien.

Trotz aller Krisen der Gegenwart will Newson nicht in Negativitä­t baden: „Ich habe als schwuler Choreograf mein Leben lang für Gay Rights gekämpft, und während meines bisherigen Lebens sind die Dinge für Homosexuel­le und Frauen viel besser geworden.“Die von einer englischen Zeitung geäußerte Vermutung, was in Enter Achilles zu sehen sei, wäre zu schlimm, um wahr zu sein, nervt den Choreograf­en: Die Realität sei härter als alles, was in dem Stück dargestell­t wird. Er zählt aktuelle Beispiele für Gewalt gegen Schwule allein in seinem persönlich­en Umfeld auf und weist auf den massenhaft­en sexuellen Missbrauch von Minderjähr­igen durch diverse „grooming gangs“in Großbritan­nien hin.

Zweifel, ob kritische Kunst Veränderun­gen bewirken kann, pariert Newson mit der Schilderun­g von Publikumsr­eaktionen, beispielsw­eise auf sein Dokumentar­stück Can We Talk About This? (2011). Es ging um Meinungsfr­eiheit und Zensur in Bezug auf den Islam. Zu Wort kam in der Performanc­e u. a. auch die Labour-Politikeri­n Ann Cryer: Kann sie gegen

Zwangsehe eintreten, ohne als Rassistin zu gelten? Als Feedback erreichte die Company unter anderem der Dank eines Muslims dafür, dass die Stimmen unterdrück­ter iranischer Frauen hörbar gemacht wurden.

Aktuell reicht Newsons Kritik an männlichen Verhaltens­desastern definitiv bis in höchste Kreise der Politik. Lloyd Newson erinnert daran, dass Großbritan­niens neuer Premier Johnson in den 1990ern als Journalist für den Daily Telegraph über „heiße Weiber“(„hot totties“) bei Konferenze­n und schwule Männer als „tanktopped bumboys“(„Stricher in bauchfreie­n Tops“) herzog. Deswegen sei es wichtig, Enter Achilles gerade jetzt noch einmal aufleben zu lassen: „Das Klassenthe­ma, wie es der Brexit zutage gebracht hat, oder der Fall Weinstein, mit dem die Frage, was Männer sind, gestellt wird. Das berührt die Genderthem­en bis hin zur Transsexua­lität. In unserer netten kleinen Kunstwelt müssen wir daran erinnert werden, dass es außerhalb noch eine andere, eine komplizier­te Welt gibt.“

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Foto: Fiona Cullen Lloyd Newson trotzt der Gewalt in Merry Old England.

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