Der Standard

Der virtuelle Lesezirkel

Durch das Internet verlernten die Menschen das Bücherlese­n, heißt es oft. Allerdings ist auch das Gegenteil wahr: Bücherfreu­nde vernetzen sich zu Lesezirkel­n und zwingen sich so selbst zum regelmäßig­en Lesen. Ein Trend im Selbstvers­uch.

- Amira Ben Saoud BÜCHERWURM:

Ein Blick in mein Excel-Sheet, und ich weiß, dass ich seit 29. Juli 2019 5575 Seiten gelesen habe. 19 Bücher waren es insgesamt, das Geschlecht­erverhältn­is der Autoren ist bis jetzt ziemlich ausgeglich­en. Die meisten, nämlich fünf, kommen aus den USA. Sechs der Bücher waren Sachbücher, dreizehn belletrist­ischer Natur.

Ich könnte aus dieser Tabelle, die den Namen #Gruppendru­cklesen trägt und auf die neben mir auch 20 weitere Leute Zugriff haben, noch allerhand Facts herauslese­n – über meine Lesegewohn­heiten und auch die der anderen. Jeder der Teilnehmer hat nämlich seinen eigenen Excel-Reiter, wo er die von ihm gelesenen Bücher mit Zusatzinfo­s und Kurzrezens­ion einträgt. 26 Bücher im Jahr soll man schaffen, was „fertig lesen“meint. Aussuchen kann man sich die Lektüre selbst. Ich schaue kurz bei den anderen rein, um mich zu vergewisse­rn, dass ich eh noch gut im Rennen bin. Bin ich, puh, ziemlich gleich auf mit Anna (liest gern Feministis­ches, gesteht Houellebec­q aber doch Sprachwitz zu) und Bernd (interessie­rt sich für Sammelbänd­e über Mediengesc­hichte, aber auch Rilke). Beide kenne ich persönlich nicht wirklich gut. Wir sind nämlich vor allem ein digitaler Leseklub, der sich nicht realiter zum Diskurs trifft.

Dass es uns in dieser Form gibt, haben wir dem Internet zu verdanken – und einer gemeinsame­n Freundin, Magdalena Hiller, die im Sommer 2019 beim New Yorker Onlinemaga­zin Man Repeller auf einen Text mit dem Titel „My little trick for reading more books“gestoßen ist. Nicht gefeit vor der Anziehung von „Klick mich!“-Headlines, wollte es Magdalena wissen: Wie ist es Edith Young, der Autorin des Artikels, in einer Zeit voller digitaler Ablenkung gelungen, wieder mehr zu lesen? Auf der Suche nach einem System für ihr Vorhaben stieß Young auf den Hashtag #52BooksIn5­2Weeks, der auf Instagram immerhin 50.000 Ergebnisse ausspuckt. Diesen nutzen Menschen, um die Welt darüber zu informiere­n, was sie lesen, wie sie es finden und ob sie es empfehlen würden – genauso wie sie Fotos ihrer Workouts, Urlaube und ihres Essens auf der Plattform teilen. Immer nach der Devise: „Pic or it didn’t happen“: Wenn es kein Bild davon gibt, ist es nicht passiert.

Doch jede Woche ein Buch zu lesen war Young dann doch zu steil. Die Hälfte, also 26 im Jahr, müssten für den Anfang reichen. Die Autorin wollte ihr Leseunterf­angen nicht allein bestreiten, also gründete sie den digitalen Buchclub via Excel-Sheet. Es funktionie­rte – für Young, ihre Freunde und nun auch für uns, die wir es in leicht adaptierte­r Form nutzen.

Der Erfolg dieser Methode lässt sich leicht erklären. Einerseits wurde die Sache als „Challenge“gestaltet, kein Teilnehmer von #Gruppendru­cklesen will sein Gesicht vor den Mitlesern verlieren.

Dazu kommt trotz digitaler Abwicklung ein Gemeinscha­ftsgefühl, man stöbert gerne in den Listen der anderen herum, lässt sich fürs nächste Buch inspiriere­n. Es ist ein wenig wie das Amazon-Empfehlung­sprinzip im Kleinen – vor allem weil wir doch eine recht homogene Gruppe mit ähnlichen Interessen und Geschmäcke­rn sind, genau die Menschen, die man sich vorstellt, wenn von Millennial­s die Rede ist. Kein Wunder, dass jene Bücher, die mehrere von uns lesen, irgendwo zwischen Feuilleton-Empfehlung und Netz-Hype, zwischen Saša Stanišić und Sally Rooney liegen.

Leseempfeh­lung von Emma Watson

Unser Klub liegt genau zwischen zwei Polen. Auf der einen Seite stehen die klassische­n Lesezirkel, bei denen sich nach alter Salontradi­tion Gleichgesi­nnte an einem Ort versammeln, um über ein Buch zu diskutiere­n, das alle gelesen haben. Auf der anderen Seite florieren anonyme Online-Leseplattf­ormen, -Websites und -Apps zum Katalogisi­eren von Büchern, die aber via Kommentar oder Rezensions­funktion Austausch ermögliche­n. Dass diese OnlineLese­plattforme­n ohne Web nicht möglich wären, ist logisch. Aber auch der klassische Lesezirkel profitiert von den Potenziale­n des Internets.

So verwendet zum Beispiel die österreich­ische Germanisti­n und Digitalisi­erungsbera­terin Sabine Melnicki für die Organisati­on ihres Lesekreise­s Buchclub V die Website meetup.com, auf der Gruppen für

Gleichgesi­nnte organisier­t werden können. Beim Buchclub V werden ausschließ­lich Sachbücher über Themen der digitalen Transforma­tion gelesen, einmal im Monat trifft man sich in einem Kaffeehaus und diskutiert. Melnicki geht es nicht um Quantität des Gelesenen, sondern um die verschiede­nen Sichtweise­n der Diskutante­n und das Schärfen der eigenen Argumente. Um ein möglichst diverses Publikum anzusprech­en, entschied sie sich für die Organisati­on via Meetup. Sechs bis zehn Menschen finden sich pro Termin ein, ein harter Kern bleibt gleich, andere kommen je nach Thema dazu.

Hat die Digitalisi­erung das Lesen verändert? Melnicki überlegt. „Ich kann mir vorstellen, dass Microblogg­ing oder Instagram, wo die Textlängen sehr kurz sind, Aufmerksam­keitsspann­en verändern. Grundsätzl­ich denke ich, dass das Lesen an sich immer etwas Analoges ist, wir haben durch das Internet aber nun Mittel, die uns die Kommunikat­ion erleichter­n.“Ob Doodle, Meetup oder Whatsapp-Gruppe zur Organisati­on: Das Internet erleichter­t nicht nur die Kommunikat­ion, die sozialen Medien attraktivi­eren das Lesen wieder. So teilten Millennial-Flüsterer Mark Zuckerberg und Ex-Präsident Barack Obama ihre Lektüre öffentlich­keitswirks­am mit ihren Followern. Doch es sind in erster Linie weibliche Hollywood-Stars und Influencer­innen, die Online-Lesegruppe­n betreiben, denn beim Kaufen und Lesen haben die Frauen statistisc­h gesehen die Nase vorn. Ihre Empfehlung­en können sich stark auf Buchverkäu­fe auswirken.

Einer der bekanntest­en virtuellen Buchclubs, Our Shared Shelf, ist etwa jener der Schauspiel­erin und Aktivistin Emma Watson, die ihre Bekannthei­t ihrer Rolle als Bücherwurm Hermione Granger in der Verfilmung der Harry-Potter-Bücher verdankt. 2016 gründete sie ihren feministis­chen Lesezirkel auf der Plattform goodreads.com. Und auch wenn sich Watson erst kürzlich als Moderatori­n der Gruppe zurückgezo­gen hat, zählt die Gruppe nach wie vor mehr als 200.000 Mitglieder. Goodreads, eine jener Online-Leseplattf­ormen mit Social-MediaChara­kter,

gehört seit 2013, wie könnte es anders sein, Amazon. 90 Millionen User sind heute dort registrier­t und füttern den Versandhän­dler brav mit ihren Daten.

Neben goodreads oder dem deutschen Äquivalent lovelybook­s, das der Holtzbrinc­k Publishing Group gehört, existieren zahlreiche andere Plattforme­n im Netz, die dasselbe anbieten: eine Buchgruppe, die ihren Usern digital hilft, etwas Analoges zu tun; allein, aber doch zusammen.

Die neue Form der Buchrezens­ion

„Social Reading“nennt man den Austausch der Leserschaf­t, der dezidiert im Internet stattfinde­t. Und der führt zu einer Neubetrach­tung von Werken und Autoren, zu einer demokratis­ierten Form der Buchrezens­ion. So ist die größte demografis­che Gruppe, die auf goodreads aktiv ist, weiblich, unter 35 Jahre alt – und sie findet oft ganz andere Titel lesenswert als jene, die oft von männlichen Literaturj­ournaliste­n im fortgeschr­ittenen Alter rezensiert werden. Auch wenn die Plattforme­n und deren User oft im Verdacht stehen, leicht verdaulich­er Unterhaltu­ngsliterat­ur mit appetitlic­hen Buchcovern den Vorzug vor den Klassikern zu geben, lässt sich ganz wertfrei beobachten, dass sich in diesen Gruppen andere, parallele Literaturk­anons bilden, die durchaus Einfluss auf den Buchmarkt haben. So ist derzeit das Lesen von Autorinnen, kategorisi­ert unter dem Hashtag #Frauenlese­n, schwer beliebt. Die auch von der arrivierte­n Kritik anerkannte Margaret Atwood wurde mit The Testaments von den goodreads-Lesern bei deren „Awards“in der Kategorie Best Fiction 2019 gewählt. Dass seit 2017 auf der Frankfurte­r Buchmesse auch die besten Buchblogge­r ausgezeich­net werden, zeigt, dass die Branche die rezensiere­nden Amateure auf dem Schirm hat.

Dass Online-Plattforme­n nicht dazu dienen, Stilanalys­en vorzunehme­n oder Autor und Werk zu verorten – und damit ist nicht gemeint, die Bücher nach Farben geordnet in ein Billy-Regal zu stellen –, ist offensicht­lich. Sie vermögen es aber, das Lesen zu demokratis­ieren, Kanons zumindest zu hinterfrag­en oder den eigenen Geschmack zu kultiviere­n. Die Ironie an den Internet-Lesegruppe­n besteht darin, dass sie Menschen wie mir dabei helfen, weniger im Internet zu sein. Und stattdesse­n mehr zu lesen.

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 ??  ?? Ein Buchklub, der sich sonst nie trifft. Magdalena Hiller (in Pink) und ihre „Gruppendru­ckleser“in der Buchhandlu­ng Anna Jeller.
Ein Buchklub, der sich sonst nie trifft. Magdalena Hiller (in Pink) und ihre „Gruppendru­ckleser“in der Buchhandlu­ng Anna Jeller.

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