Der Standard

In Ägypten leben nun 100 Millionen Menschen – das bringt auch allerlei Probleme mit sich.

Die Bevölkerun­g in Ägypten wächst trotz einer staatliche­n Kampagne für die Zwei-Kind-Familie weiter. Diese Woche wurde die 100-Millionen-Grenze überschrit­ten. Die Sorge überwiegt.

- Gudrun Harrer

gypten ließ es sich nicht nehmen, am Dienstag in der Mittagszei­t seinen hundertmil­lionsten Bürger – konkret eine Bürgerin – willkommen zu heißen: Eine Anzeigetaf­el am Statistika­mt in Kairo zeigte die Nummer 100.000.000, allerdings nicht einmal zwanzig Sekunden lang, dann liefen die Zahlen bereits weiter. Als Jubelbaby wurde Yasmina Rabie, geboren in einem Dorf im Gouverneme­nt Minya, identifizi­ert. Wenn sie zehn Jahre alt ist, könnte der ägyptische Bevölkerun­gsticker bereits 120 Millionen erreicht haben, im Jahr 2050 wären es 150 Millionen Menschen, rechnen Statistike­r vor.

Den Eltern der kleinen Yasmina ist ungetrübte Freude zu wünschen. Was die Zuwachsrat­e von jährlich mehr als 1,7 Prozent für den ägyptische­n Staat bedeutet, hat dessen Präsident Abdelfatta­h al-Sisi im Jahr 2017 ziemlich drastisch formuliert: Die Überbevölk­erung sei für das Land am Nil – wo 95 Prozent der Bevölkerun­g auf etwa vier Prozent der Fläche entlang des Flusses und im Nildelta leben – ein ebenso großes Problem wie der Terrorismu­s.

Das Bevölkerun­gswachstum frisst jedes Wirtschaft­swachstum auf. Land, Wasser, selbstprod­uzierte Lebensmitt­el, Wohnungen werden immer knapper für die Menschen, von denen mehr als ein Drittel unter der Armutsgren­ze lebt. Jährlich müssten 700.000 neue Jobs bereitgest­ellt werden, um alle jungen Erwachsene­n auf dem Arbeitsmar­kt unterzubri­ngen.

Zwei Drittel der Bevölkerun­g sind unter dreißig.

Auffällig ist, dass die Wachstumsr­aten bereits einmal niedriger waren: Ab Ende der Nullerjahr­e sind sie wieder gestiegen. Seit 2017 läuft unter dem Slogan „Zwei sind genug“eine staatliche Kampagne, die ägyptische Familien davon überzeugen soll, nicht mehr als zwei Kinder auf die Welt zu bringen. 2018 ging die Fruchtbark­eitsrate von 3,4 Kindern pro Frau auf 3,1 hinunter.

Kein Geld fürs dritte Kind

Seit 2018 gibt es das „Egypt Family Planning Program“, mit Unterstütz­ung aus den USA und der EU, Letztere mit der Schiene „Dein Recht zu planen“. Informatio­n und bessere Verfügbark­eit von Verhütungs­mitteln sind die Grundeleme­nte des staatliche­n Programms, das jedoch auch ein punitives Element hat: Ein drittes Kind soll nicht mehr staatlich unterstütz­t werden.

Zur Informatio­n gehört, den Ägyptern und Ägypterinn­en klarzumach­en, dass Geburtenko­ntrolle und Islam vereinbar sind: Das bescheinig­t auch die höchste theologisc­he Instanz, Al-Azhar. Das schlägt sich jedoch mit einer gewissen religiösen Schicksals­ergebenhei­t und der Machokultu­r, die den Wert eines Mannes auch an der Zahl seiner Kinder misst. Aber gerade bei den kinderreic­hsten Gruppen geht es oft um etwas anderes: Auf dem Land sind Kinder Arbeitskrä­fte, die sonst zugekauft werden müssten.

Als weiteres Hindernis könnte man eine gewisse Unentschlo­ssenheit bei der Aufklärung­skampagne sehen: In deren Zentrum stehen Jungverhei­ratete und Familien. Eine Sexualerzi­ehung im jüngeren Alter bleibt weiter tabu.

Von fünf auf drei

Das Bevölkerun­gswachstum wird in Ägypten seit Jahrzehnte­n als Problem benannt. Seit 1974 ist Ägypten – lange als „Kornkammer“gerühmt – Netto-Lebensmitt­elimporteu­r. Die ersten Eindämmung­sversuche starteten Ende der 1960er-Jahre und brachten immerhin einen Rückgang von durchschni­ttlich fünf Kindern pro Frau auf drei. Die Zahl Fünf reflektier­t etwa ein Plakat, auf dem eine in fünf Teile zerrissene 50-PfundNote zu sehen ist: „Ist es besser, sie in fünf oder in zwei Teile zu teilen?“, ist die rhetorisch­e Frage.

Das katholisch­e Verbot der Empfängnis­verhütung lässt Menschen im Westen glauben, dass auch der konservati­ve Islam keine Geburtenko­ntrolle erlaubt. Das ist schlicht falsch. Bangladesc­h etwa ist eines der islamisch geprägten Länder, die ein relativ erfolgreic­hes Programm fahren.

Die Geburtenra­te auf weniger als ein Prozent zu senken, gelang ausgerechn­et der Islamische­n Republik Iran. Die Zwei-Kind-Familienpo­litik setzte nach dem Tod von Revolution­sführer Ruhollah

Khomeini in den 1990ern ein. Es gab wie in Ägypten heute Anreize für kleine Familien und Nachteile ab dem dritten Kind. Im Jahr 2007 war der Bevölkerun­gszuwachs auf 0,7 Prozent gefallen.

Gleichzeit­ig setzte unter Präsident Mahmud Ahmadi-Nejad (2005–2013) wieder eine pronatalis­tische Politik ein, und zwar durchaus mit einem politische­n, antiwestli­chen Unterton: Starke iranische gegen schwache westliche Zuwachsrat­en würden zum „Triumph“über den Westen führen. Frühere „Weniger Kinder, besseres Leben“-Plakate wurden ersetzt durch solche mit neuen Sujets: glückliche große Familien – gegen traurige kleine.

 ??  ??
 ??  ?? Menschen in einer U-Bahn-Station in Kairo: Vor allem in den ägyptische­n Städten wird der Platz eng.
Menschen in einer U-Bahn-Station in Kairo: Vor allem in den ägyptische­n Städten wird der Platz eng.

Newspapers in German

Newspapers from Austria