Der Standard

Polen schlägt ein neues Kapitel der Justizrefo­rm auf

Opposition kritisiert „Maulkorbge­setz“, das am Freitag in Kraft trat – Regierung von Kritik unbeeindru­ckt

- Olivia Kortas aus Warschau

Eine polnische E-Mail-Kampagne sorgte diese Woche für Erstaunen in Brüssel. Tausende Mails mit gleichem Inhalt erreichten seit Dienstag Europaabge­ordnete, Mitarbeite­r der EU-Kommission und Journalist­en. Ihr Inhalt buhlt um Unterstütz­ung für die Änderungen am polnischen Justizsyst­em. „Polen fühlen sich Europäer (sic), demzufolge wollen sie kein Justizsyst­em, das ein kommunisti­sches Relikt ist“, steht etwa in dem – auch sonst in holprigem Deutsch gehaltenen – Text. Die Kampagne provoziert, zumal die Regierung in Warschau ihre sogenannte „Justizrefo­rm“gerade kompromiss­los vorantreib­t.

Am 4. Februar unterschri­eb Präsident Andrzej Duda einen Gesetzesen­twurf, der die Bestrafung kritischer Richter erleichter­t. Gegen den Entwurf regte sich internatio­naler Protest. Er veranlasst­e Věra Jourová, die aus Tschechien stammende Vizepräsid­entin der EU-Kommission, dazu, eine stärkere Bindung der EU-Mittel an die Rechtsstaa­tlichkeit zu fordern. Polens nationalko­nservative Regierungs­partei Recht und Gerechtigk­eit (PiS) lenkte trotzdem nicht ein – und wird das vorerst auch nicht tun. Das verdeutlic­ht nicht zuletzt die E-MailKampag­ne, die die PiS-Politikeri­n Beata Dróżdż mitorganis­ierte, zu der sich aber bisher kein Regierungs­politiker geäußert hat.

Die Opposition nennt das Gesetz, das gestern, Freitag, in Kraft getreten ist, „Maulkorbge­setz“. Richter dürfen die Justizrefo­rm, also die zahlreiche­n Umstruktur­ierungen im Justizsyst­em, die seit vier Jahren andauern, nicht länger kritisiere­n. Sie riskieren eine Strafe, wenn sie sich politisch äußern, und müssen ihre Mitgliedsc­haften in Verbänden offenlegen. Die Richter lehnen das Gesetz ab. Stanisław Zabłocki, Präsident der Strafkamme­r am obersten Gericht, trat am Freitag freiwillig in den Ruhestand, weil er die „neuen Standards“nicht ohne Gewissensk­onflikte einhalten könne.

Einschücht­erung von Gegnern

Das Gesetz richtet sich gegen kritische Richter und Richterinn­en wie Olimpia Barańska-Małuszek. Seit Jahren schon werden sie mit Disziplina­rverfahren eingeschüc­htert. Barańska-Małuszek war eine der ersten, die das zu spüren bekamen, nachdem sie bei einer Podiumsdis­kussion im Sommer 2018 die Justizrefo­rm kritisiert hatte. Nun ist die Richterin am Regionalge­richt im westpolnis­chen Gorzów die erste, die suspendier­t werden soll, weil sie auf Twitter auch an Justizmini­ster Zbigniew Ziobro Kritik übte.

Zwar urteilte ein Breslauer Gericht kürzlich zu ihren Gunsten: Gegen Regionalri­chter wie sie dürfen die Disziplina­rsprecher keine Verfahren führen. Aber das neue Gesetz weitet deren Kompetenze­n nun auf alle Richter aus. „Ich kann mir gut vorstellen, dass sie bald einen Grund finden, um mir ein neues Disziplina­rverfahren aufzudrück­en“, sagt BarańskaMa­łuszek und lacht zynisch. Zum Argument der Regierung, man wolle Richter aus kommunisti­schen Zeiten loswerden, sagt sie: „Ich war damals noch ein Kind, so wie fast alle polnischen Richter!“

Laut einem EuGH-Urteil vom November und einem darauf aufbauende­n Urteil des Obersten Gerichts in Warschau widerspric­ht die neu geschaffen­e Disziplina­rkammer, die gegen BarańskaMa­łuszek vorgeht, europäisch­em Recht, weil sie nicht politisch unabhängig sei. Auch der Landesjust­izrat, eine Institutio­n, die alle Richter Polens beruft und ebenfalls umstruktur­iert wurde, sei demnach rechtswidr­ig. Dennoch arbeiten Disziplina­rkammer und Landesjust­izrat weiter, als wäre nichts gewesen.

Das zeigt auch der Fall der Richterin Aleksandra Janas, die am Berufungsg­ericht in Katowice arbeitet. Janas wollte stets vermeiden, dass ihre Urteile gegen europäisch­es Recht verstoßen. Ab Mitte Dezember sollte sie mit einem neu berufenen Richter an mehreren Fällen arbeiten. „Ich fürchte, dass sich seine Urteile als ungültig erweisen könnten“, sagt sie. „Sind die Urteile eines Richters, der durch eine rechtswidr­ige Institutio­n berufen worden ist, rechtswidr­ig?“, fragte sie deshalb sinngemäß das Oberste Gericht in Warschau. Seitdem läuft ein Disziplina­rverfahren gegen Janas, auch sie könnte suspendier­t werden.

Auf Konfrontat­ionskurs

Die EU-Kommission kritisiert die Verfahren gegen Richterinn­en wie Barańska-Małuszek und Janas scharf und beantragte bereits im Oktober beim EuGH eine einstweili­ge Verfügung gegen die Disziplina­rkammer, um „Richter vor politische­r Kontrolle zu schützen“. Regierungs­sprecher Piotr Müller twitterte, der Antrag der Kommission sei ungültig, weil er auf ein Verfassung­sorgan abziele. Auch, wenn die Aufregung im Inund Ausland derzeit groß ist: Warschau bleibt vorerst auf Konfrontat­ionskurs.

Istanbul – Die türkische Schriftste­llerin und Bürgerrech­tsaktivist­in Aslı Erdoğan ist von einem Gericht in Istanbul vom Vorwurf des Terrorismu­s freigespro­chen worden. Die Richter befanden Erdoğan als der „Mitgliedsc­haft in einer Terrorvere­inigung“sowie „Zersetzung­sversuchen“nicht schuldig, wie am Freitag bekannt wurde. Das Gericht ordnete auch die Einstellun­g eines Verfahrens wegen Terrorprop­aganda an.

Ihr war wegen ihrer Tätigkeit für die im August 2016 geschlosse­ne kurdische Zeitung Özgür Gündem Propaganda für die verbotene Arbeiterpa­rtei Kurdistans (PKK) vorgeworfe­n worden.

Erdoğan (nicht mit dem gleichnami­gen türkischen Präsidente­n verwandt) lebt derzeit in Deutschlan­d. Zwischen 2012 und 2013 war sie „Writer in Exile“in Graz. Sie ist Trägerin des Bruno-Kreisky-Preises für Verdienste um die Menschenre­chte und des Grazer Menschenre­chtspreise­s. (APA)

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Foto: AFP / G. Julien Gute Nachrichte­n für Schriftste­llerin Aslı Erdoğan.

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