Der Standard

Auf Guernsey gibt es kein Fastfood, keine Graffiti, keine Kriminalit­ät. Obwohl: Da war diese Sache mit dem Barsch ...

Auf der Kanalinsel Guernsey stoßen Gegensätze aufeinande­r: Auf den grünen Hügeln im Atlantik findet man britische Beschaulic­hkeit und französisc­hen Charme.

- GESTRANDET: Monika Hippe

Der Schlüssel ist doppelt so lang wie ein Zeigefinge­r und scheint viel zu schmal für das Schloss zu sein. Und doch – er passt: Die uralte Holztür öffnet sich knarrend. Innen riecht es muffig nach 19. Jahrhunder­t. Doch das Gefühl, Turmbesitz­er auf Zeit zu sein, ist großartig. Man hat uns den Schlüssel großzügig überlassen, auch wenn nur eine halbe Stunde für die Besichtigu­ng vorgesehen ist. Die Zeit reicht, um die 98 Stufen der Wendeltrep­pe hinaufzust­eigen, dabei das alte Wandgestei­n zu befühlen. Sich vorzustell­en, wie es Königin Victoria in Reifrock und Pumps hier raufgescha­fft hat. 1848 wurde Victoria Tower in St. Peter Port auf der Kanalinsel Guernsey zur Erinnerung an ihren Besuch gebaut.

Oben kämmt ein frischer Wind die Haare aus dem Gesicht, auf dem Meer wippen Segelboote in den Wellen. Neben dem Hafen liegt die Festung Castle Cornet wie ein Haufen unaufgeräu­mter Bauklötze. In der Ferne sind die Schwesteri­nseln Herm, Sark und Jersey zu erkennen. Reckt man den Kopf in den Himmel, sieht man am Turm die Gargoyles – steinerne Wasserspei­er mit hässlichen Fratzen. Schon im Mittelalte­r hat man sie als architekto­nisches Stilmittel verwendet, um bösen Geistern den Spiegel vorzuhalte­n und sie dadurch zu vertreiben.

Guernsey wurde vor rund 6000 Jahren vom französisc­hen Festland getrennt. Durch die Nähe zum Meer und das Erleben seiner Naturgewal­t hat sich der Glaube an Übersinnli­ches und Hexerei lange gehalten. Dem Mystischen widmet das Guernsey Museum im nahegelege­nen Candy Park eine ganze Abteilung. Dort gibt man auch den Turmschlüs­sel wieder ab.

Eiland mit Eigenheite­n

Die familiäre Handhabung der Schlüsselü­bergabe ist nicht die einzige Eigenheit der 78 Quadratkil­ometer großen Insel im Ärmelkanal. Zweite Amtssprach­e ist Französisc­h, dazu druckt man hier eigenes Geld, hat eigene Briefmarke­n, teils eine eigene Gesetzgebu­ng und sehr vorteilhaf­te Steuersätz­e. Seit 2016 wird Guernsey von der EU auf der schwarzen Liste der Steueroase­n geführt, am Status quo hat sich dadurch wenig geändert. Die Insel befindet sich in britischem Kronbesitz. Sie gehört aber weder zum Vereinigte­n Königreich, noch gehörte sie je zur EU. Ein Vogt verwaltet sie, ein

Gouverneur vertritt die Königin repräsenta­tiv. Es gibt kein Fastfood, keine Graffiti, keine Kriminalit­ät. Obwohl, doch: Einmal hat jemand einen Wolfsbarsc­h aus dem örtlichen Aquarium gestohlen, um damit beim Fischfangw­ettbewerb anzugeben.

Obwohl Guernsey nie EU-Mitglied war, sind die Auswirkung­en des Brexits dort bereits zu spüren gewesen: Französisc­hen Fischern war es kurzfristi­g verboten, in den Hoheitsgew­ässern der Insel auf Fang zu gehen. Schnell und unbürokrat­isch hat man sich daraufhin mit den Franzosen geeinigt: Vorerst dürfen sie wiederkomm­en und ihre Netze auswerfen. Die Insel ist zu sehr zwischen Großbritan­nien und Frankreich „gefangen“, als dass man dort einen Streit vom Zaun brechen will.

Gänseblümc­hen im Golfstrom

So manches auf Guernsey wirkt streng britisch, anderes läuft auf die leichtere französisc­he Art. Die Insel war früher im Besitz des Herzogtums der Bretagne. Noch immer erzählen Türme, Festungen und Mauern von den Zeiten, als sich die Insel gegen Eindringli­nge wehren musste. Wie als Zeichen des Friedens wachsen heute Blümchen aus den Mauern, darunter das weiß-rosa blühende St.-Peter-Port-Gänseblümc­hen, das nur hier vorkommt. Das milde Golfstromk­lima lässt Blumen und Gemüse prächtig gedeihen. In der Hafenstadt tummeln sich Blüten in mehr als 1000 Blumenkäst­en, die durch eine zehn Kilometer lange Leitung bewässert werden. In den Wäldern wachsen Teppiche aus Glockenblu­men, und an der Küste rangeln Ginster und wilder Knoblauch um die Vorherrsch­aft.

Schmale Klippenpfa­de führen um die gesamte Insel und immer wieder zu herrlich feinsandig­en Stränden. Oft brüllt entlang der 60 Kilometer langen Strecke aber auch die Gischt an der Steilküste, und die Möwen zetern dazu. Permanente­r Wind föhnt dem Wanderer eine neue Frisur. Wer den Windchill beim Weggehen unterschät­zt hat, kann an der Rocquaine Bay bei Le Tricoteur einen Pulli kaufen – nicht irgendeine­n, sondern den „Guernsey“. Es ist das wind- und wasserabwe­isende Original, das früher die Fischer trugen. Am Ärmel wurde das spezifisch­e Muster der Familien eingestric­kt. Wenn das Meer einen Pullover anschwemmt­e, konnte man so erkennen, zu welcher Familie der verunglück­te Fischer gehörte. Auch Admiral Nelson stattete seine Soldaten mit dem Pullover aus, der Bestandtei­l der Winterunif­orm war.

„Waschen muss man ihn kaum, er ist aus Schurwolle und reinigt sich selbst“, sagt John, der die warmen Pullis seit 39 Jahren an der Strickmasc­hine herstellt. Anschließe­nd werden sie an zwei Dutzend einheimisc­he Frauen geschickt. Per Hand ergänzen sie den Halsaussch­nitt und ein Unterarmst­ück, das für viel Bewegungsf­reiheit sorgt. Jeder Insulaner hat mindestens einen Guernsey im Schrank, und die Aufträge kommen aus der ganzen Welt. Auch aus dem Königshaus und in letzter Zeit verstärkt aus Japan.

Unweit der Manufaktur liegt ein weiteres Schmuckstü­ck der Insel: die Kleine Scherbenki­rche in Les Vauxbelets. Sie ist eine der kleinsten Kirchen der Welt, außen und innen komplett mit Porzellans­cherben und Muscheln dekoriert. Französisc­he Ordensbrüd­er im Exil haben sie ab 1914 errichtet, in Erinnerung an die Grotte von Lourdes. Vor einiger Zeit drohte das Fundament des Bauwerks allerdings abzusacken. Daraufhin spendeten die Einheimisc­hen innerhalb kürzester Zeit ein halbe Million Euro für die Renovierun­g. Welch kleine, reiche Insel Guernsey doch ist. Bisher haben jedenfalls weder der Brexit noch das Fortbesteh­en der Insel als Steueroase einen Scherbenha­ufen hinterlass­en.

Anreise: Flug Wien–Guernsey immer nur mit (relativ langem) Zwischenst­opp; sinnvoller ist z. B. eine Bretagne-Reise in Verbindung mit einem Aufenthalt auf der Kanalinsel; bei guter Planung dauert die Zugfahrt von Wien via Frankfurt und Paris nach Rennes etwas mehr als 13 Stunden. Ab Saint-Malo verkehren regelmäßig Fähren: www.condorferr­ies.co.uk Übernachte­n: Das Hotel Les Douvres in St. Martin ist ein sympathisc­hes Landhaus, DZ mit Frühstück ab € 70; Bella Luce Hotel: gepflegte Anlage mit Gin-Destilleri­e, DZ mit Fr. ab € 166, www.bellaluceh­otel.com

Essen: Ob Wolfsbarsc­h oder Hummer – „Le Nautique“ist ein beliebtes Fischresta­urant, Gerichte zwischen 17 und 58 Euro: www.lenautique­restaurant.co.uk. Gute Fish ’n’ Chips gibt’s im Crow’s Nest direkt am Hafen: www.liberation­group.com

Veranstalt­er: Wanderreis­en bietet z. B. Ikarus Tours / Wikinger Reisen an, acht Tage mit Nächtigung, ab 568 Euro (Anreise extra) unter www.ikarus-dodo.at Die Reise wurde von Visit Guernsey unterstütz­t: www.visitguern­sey.com

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Saint Peter Port, die Hauptstadt der Kanalinsel Guernsey, liegt auch architekto­nisch zwischen Großbritan­nien und Frankreich: Die Festung und der Wehrturm muten britisch an, die heimeligen Wohnhäuser eher französisc­h.

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