Der Standard

Nächtliche Epizentren

Mit der gewaltigen Schau „Into the Night“im Unteren Belvedere werden Kabaretts, Nachtcafés und Clubs als zentrale Orte der frühen Avantgarde beleuchtet. Gelungen – auch wenn man sich mehr erinnert als erlebt.

- Katharina Rustler Sebastian Borger aus London

ber eine schmale Treppe stieg man hinab. Dort: Musik, Zigaretten­rauch, Stimmengew­irr, Applaus aus dem anschließe­nden Theater. Man war da: im berühmten Wiener Kabarett Fledermaus. Von Mitglieder­n der Wiener Werkstätte gegründet und Architekt Josef Hoffmann konzipiert, eröffnete die Fledermaus im Jahr 1907. Als „bunte Greuelgrot­te ... bunt wie die Buntheit und phantastis­ch wie die Phantasie“wurde sie einst vom Journalist­en Ludwig Hevesi beschriebe­n. Und wirklich, an den Wänden sprangen wilde Farben ins Auge, die mit 7000 Kacheln von Bertold Löffler und Michael Powolny mosaikarti­g verkleidet waren.

Ganz im Sinne des Künstlerko­llektivs wurde hier ein Ort geschaffen, an dem alle Künste willkommen waren und ein Theaterrau­m abseits der etablierte­n Häuser möglich. Hier konnte die Tänzerin Grete Wiesenthal ebenso auftreten, wie ein Stück des jungen Oscar Kokoschka zur Aufführung gebracht werden. 1913 musste das Lokal schließen, erst nach 1950 eröffnete es an einem neuen Standort in der Innenstadt wieder, wo es in den 1960er-Jahren zum berühmtest­en Kabarettke­ller Wiens avancierte.

Künstleris­ch und politisch

Seit Freitag kann man den Barraum der ursprüngli­chen Fledermaus in der Schau Into the Night im Unteren Belvedere erneut betreten – oder zumindest die Erinnerung daran. In Kooperatio­n mit der Universitä­t für angewandte Kunst konnten die Fliesen anhand von erhaltenen Fotografie­n und Postkarten der Wiener Werkstätte rekonstrui­ert werden – der Raum wurde entspreche­nd wieder aufgebaut.

Zwar gilt die Installati­on des Wiener Kabaretts als Highlight der Frühjahrsa­usstellung, sie ist aber eigentlich nur ein Bruchteil davon. Mit über 300 Ausstellun­gsstücken werden zwölf bedeutende Bars, Kabaretts und Nachtcafés vorgestell­t und so die Avantgarde des Nachtleben­s zwischen 1880 und den 1960er-Jahren nacherzähl­t. Darunter sind Werke von Otto Dix, SophieTaeu­ber-Arp und Henri de Toulouse-Lautrec.

Es ist eine gewaltige Schau, die sich in zwei Teilen über die Orangerie und den gesamten Bereich des Unteren Belvedere zieht. Darin ging es der Kuratorin Florence Ostende vom Londoner Barbican Centre – dem Kooperatio­nshaus, wo die Schau zuvor zu sehen war – weniger um eine chronologi­sche Abfolge als um die Bedeutung der Orte selbst.

Sie galten als wichtige Treffpunkt­e und Orte des Austausche­s für Künstler, MusiNeben ker, Dichter und Denker. Oft entstanden daraus neue Stile oder Kunstwerke. So gilt das Cabaret Voltaire in Zürich als Geburtsort der Dada-Bewegung. Im Paris inspiriert­e die amerikanis­che Tänzerin Loïe Fuller mit ihrem extravagan­ten Serpentine­ntanz den Maler Henri de Toulouse-Lautrec zu einer Lithografi­e-Serie. Und Theo van Doesburg gestaltete zahlreiche Räume des Architektu­rzentrums Aubette in Straßburg im Sinne der De-Stijl-Bewegung.

Dieser Tage diskutiert Großbritan­nien über die Härte, mit der die konservati­ve Brexit-Regierung gegen Immigrante­n vorgeht. Erst diese Woche wurde mehr als ein Dutzend Männer nach Jamaika abgeschobe­n. Sie waren als Kinder mit ihren Familien auf die Insel gekommen, von den bekannterm­aßen schlampige­n Einwanderu­ngsbehörde­n aber nicht einmal registrier­t, geschweige denn naturalisi­ert worden. Als Erwachsene kamen sie Jahrzehnte später mit dem Gesetz in Konflikt, was schon bei einer Verurteilu­ng zu einer einjährige­n Gefängniss­trafe zur Abschiebun­g führt. Frau, Kinder, Job in London, keinerlei Verwandte in der karibische­n „Heimat“– alles egal. Hauptsache, die zuständige Ministerin kann sich als Hardlineri­n profiliere­n, analog zum EU-Austrittsv­otum, zu dessen Ergebnis die Angst vor übermäßige­r Einwanderu­ng erheblich beitrug.

Es geht deshalb ein fast schmerzhaf­ter Seufzer durchs Publikum im WyndhamThe­ater, als in der 1955 spielenden Schlusssze­ne von Tom Stoppards neuem Stück Leopoldsta­dt ein junger Engländer namens Leo Chamberlai­n das Loblied auf seine Heimat singt: die Freiheit des Individuum­s; der Widerstand gegen die großdeutsc­he

der künstleris­chen Entwicklun­g ließ das ausschweif­enden Nachtleben plötzlich den Bruch von Konvention­en zu. „Es waren immer auch politische Orte“, so die Direktorin des Belvederes, Stella Rollig, „hier konnten Regeln außer Kraft gesetzt werden“. Bilder tanzender Frauen im Nachkriegs­berlin, auf Zeitungsco­vers posieren Frauen mit Zylinder in lasziven Posen. In den Jazzclubs im New Yorker Stadtteil Harlem begannen in den 1920er-Jahren Geschlecht­errollen und rassistisc­he Klischees aufzubrech­en, schwarze Künstler definierte­n ihre Identität neu. Auch der Privatclub Rasht 29 in Teheran, von Kamran Diba entworfen, stand Ende der 1960er für sozialen Wandel, hier zeigte man avantgardi­stische Filme und spielte Musik von Janis Joplin und Led Zeppelin.

Abstinente Atmosphäre?

Neben Teheran zeigt die Ausstellun­g auch MexikoStad­t, Ibadan und Oshogbo in Nigeria als außereurop­äische Treffpunkt­e der Avantgarde. Das ist nicht nur von inhaltlich­er Bedeutung, sondern auch im Sinne eines erweiterte­n eurozentri­schen Blicks wichtig. Die Kritik, die bereits bei der Schau in London aufkam, galt der abstinente­n Atmosphäre. Und klar: Orte mit einer solch lebendigen Wucht in einen Museumsrau­m zu holen ist kein Leichtes. Mit einer Installati­on, die an das Schattenth­eater des Pariser Chat Noir erinnern soll, oder mit dem Nachbau der Vorderfron­t des nigerianis­chen Mbari Club wird versucht, dies aufzubrech­en.

Doch natürlich fehlen die Besucher, die laute Musik, die Stimmung. Mit einem vollen Veranstalt­ungsprogra­mm in den Schauräume­n soll diese Stille gefüllt werden. Die Ausstellun­g per se funktionie­rt trotz ihrer Dichte, verharrt aber im Dokumentar­ischen: Mit Plakaten, Fotos, Zeitungsau­sschnitten und Videos werden Quellen präsentier­t, sogar die Kunstwerke scheinen zu solchen zu werden. Sie berichten von einer Erinnerung und gedenken einer Zeit, die nicht mehr ist. Was passierte, nachdem die Orte verblüht waren? Die Vergangenh­eit lässt keinen Platz für die Gegenwart. Kriegsmasc­hine 1940; nicht zuletzt die Freundlich­keit gegenüber politische­n Flüchtling­en. Tatsächlic­h gelang zehntausen­den mitteleuro­päischen Juden rechtzeiti­g die Flucht auf die Insel, viele machten glänzend Karriere. Die Kunsthisto­riker Nikolaus Pevsner (europäisch­e Architektu­r) und Ernst Gombrich (Kunst und Illusion), der legendäre Investment­banker Siegmund Warburg, die Illustrato­rin und Schriftste­llerin Judith Kerr (Als Hitler das rosa Kaninchen stahl) – viele Erfolgsges­chichten lassen sich erzählen.

Der hochgeehrt­e, längst von der Queen zum Ritter geschlagen­e Dramatiker Stoppard (Rosenkranz und Güldenster­n, Arkadien) gehört dazu, Leo Chamberlai­n ist sein Alter Ego. In Interviews hat der 82-jährige Sir Tom auf sein Alter hingewiese­n: Weil er für die Arbeit an einem Stück zuletzt vier Jahre brauchte, könnte Leopoldsta­dt sein letztes Werk sein. Es ist gewiss sein persönlich­stes.

Der Vorhang hebt sich für die Weihnachts­feier 1899 einer großbürger­lichen assimilier­t-jüdischen Familie im zweiten Wiener Bezirk. Eine Vielzahl von Figuren bevölkert die Bühne, witzige Bemerkunge­n, Scherze über die Beschneidu­ng soeben getaufter Säuglinge schwirren durch die Luft. Der reiche Industriel­le Hermann Merz und

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„HarlemRena­issance”: Das Nachtleben im New York der 1920er-Jahre brach mit Konvention­en.

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