Nächtliche Epizentren
Mit der gewaltigen Schau „Into the Night“im Unteren Belvedere werden Kabaretts, Nachtcafés und Clubs als zentrale Orte der frühen Avantgarde beleuchtet. Gelungen – auch wenn man sich mehr erinnert als erlebt.
ber eine schmale Treppe stieg man hinab. Dort: Musik, Zigarettenrauch, Stimmengewirr, Applaus aus dem anschließenden Theater. Man war da: im berühmten Wiener Kabarett Fledermaus. Von Mitgliedern der Wiener Werkstätte gegründet und Architekt Josef Hoffmann konzipiert, eröffnete die Fledermaus im Jahr 1907. Als „bunte Greuelgrotte ... bunt wie die Buntheit und phantastisch wie die Phantasie“wurde sie einst vom Journalisten Ludwig Hevesi beschrieben. Und wirklich, an den Wänden sprangen wilde Farben ins Auge, die mit 7000 Kacheln von Bertold Löffler und Michael Powolny mosaikartig verkleidet waren.
Ganz im Sinne des Künstlerkollektivs wurde hier ein Ort geschaffen, an dem alle Künste willkommen waren und ein Theaterraum abseits der etablierten Häuser möglich. Hier konnte die Tänzerin Grete Wiesenthal ebenso auftreten, wie ein Stück des jungen Oscar Kokoschka zur Aufführung gebracht werden. 1913 musste das Lokal schließen, erst nach 1950 eröffnete es an einem neuen Standort in der Innenstadt wieder, wo es in den 1960er-Jahren zum berühmtesten Kabarettkeller Wiens avancierte.
Künstlerisch und politisch
Seit Freitag kann man den Barraum der ursprünglichen Fledermaus in der Schau Into the Night im Unteren Belvedere erneut betreten – oder zumindest die Erinnerung daran. In Kooperation mit der Universität für angewandte Kunst konnten die Fliesen anhand von erhaltenen Fotografien und Postkarten der Wiener Werkstätte rekonstruiert werden – der Raum wurde entsprechend wieder aufgebaut.
Zwar gilt die Installation des Wiener Kabaretts als Highlight der Frühjahrsausstellung, sie ist aber eigentlich nur ein Bruchteil davon. Mit über 300 Ausstellungsstücken werden zwölf bedeutende Bars, Kabaretts und Nachtcafés vorgestellt und so die Avantgarde des Nachtlebens zwischen 1880 und den 1960er-Jahren nacherzählt. Darunter sind Werke von Otto Dix, SophieTaeuber-Arp und Henri de Toulouse-Lautrec.
Es ist eine gewaltige Schau, die sich in zwei Teilen über die Orangerie und den gesamten Bereich des Unteren Belvedere zieht. Darin ging es der Kuratorin Florence Ostende vom Londoner Barbican Centre – dem Kooperationshaus, wo die Schau zuvor zu sehen war – weniger um eine chronologische Abfolge als um die Bedeutung der Orte selbst.
Sie galten als wichtige Treffpunkte und Orte des Austausches für Künstler, MusiNeben ker, Dichter und Denker. Oft entstanden daraus neue Stile oder Kunstwerke. So gilt das Cabaret Voltaire in Zürich als Geburtsort der Dada-Bewegung. Im Paris inspirierte die amerikanische Tänzerin Loïe Fuller mit ihrem extravaganten Serpentinentanz den Maler Henri de Toulouse-Lautrec zu einer Lithografie-Serie. Und Theo van Doesburg gestaltete zahlreiche Räume des Architekturzentrums Aubette in Straßburg im Sinne der De-Stijl-Bewegung.
Dieser Tage diskutiert Großbritannien über die Härte, mit der die konservative Brexit-Regierung gegen Immigranten vorgeht. Erst diese Woche wurde mehr als ein Dutzend Männer nach Jamaika abgeschoben. Sie waren als Kinder mit ihren Familien auf die Insel gekommen, von den bekanntermaßen schlampigen Einwanderungsbehörden aber nicht einmal registriert, geschweige denn naturalisiert worden. Als Erwachsene kamen sie Jahrzehnte später mit dem Gesetz in Konflikt, was schon bei einer Verurteilung zu einer einjährigen Gefängnisstrafe zur Abschiebung führt. Frau, Kinder, Job in London, keinerlei Verwandte in der karibischen „Heimat“– alles egal. Hauptsache, die zuständige Ministerin kann sich als Hardlinerin profilieren, analog zum EU-Austrittsvotum, zu dessen Ergebnis die Angst vor übermäßiger Einwanderung erheblich beitrug.
Es geht deshalb ein fast schmerzhafter Seufzer durchs Publikum im WyndhamTheater, als in der 1955 spielenden Schlussszene von Tom Stoppards neuem Stück Leopoldstadt ein junger Engländer namens Leo Chamberlain das Loblied auf seine Heimat singt: die Freiheit des Individuums; der Widerstand gegen die großdeutsche
der künstlerischen Entwicklung ließ das ausschweifenden Nachtleben plötzlich den Bruch von Konventionen zu. „Es waren immer auch politische Orte“, so die Direktorin des Belvederes, Stella Rollig, „hier konnten Regeln außer Kraft gesetzt werden“. Bilder tanzender Frauen im Nachkriegsberlin, auf Zeitungscovers posieren Frauen mit Zylinder in lasziven Posen. In den Jazzclubs im New Yorker Stadtteil Harlem begannen in den 1920er-Jahren Geschlechterrollen und rassistische Klischees aufzubrechen, schwarze Künstler definierten ihre Identität neu. Auch der Privatclub Rasht 29 in Teheran, von Kamran Diba entworfen, stand Ende der 1960er für sozialen Wandel, hier zeigte man avantgardistische Filme und spielte Musik von Janis Joplin und Led Zeppelin.
Abstinente Atmosphäre?
Neben Teheran zeigt die Ausstellung auch MexikoStadt, Ibadan und Oshogbo in Nigeria als außereuropäische Treffpunkte der Avantgarde. Das ist nicht nur von inhaltlicher Bedeutung, sondern auch im Sinne eines erweiterten eurozentrischen Blicks wichtig. Die Kritik, die bereits bei der Schau in London aufkam, galt der abstinenten Atmosphäre. Und klar: Orte mit einer solch lebendigen Wucht in einen Museumsraum zu holen ist kein Leichtes. Mit einer Installation, die an das Schattentheater des Pariser Chat Noir erinnern soll, oder mit dem Nachbau der Vorderfront des nigerianischen Mbari Club wird versucht, dies aufzubrechen.
Doch natürlich fehlen die Besucher, die laute Musik, die Stimmung. Mit einem vollen Veranstaltungsprogramm in den Schauräumen soll diese Stille gefüllt werden. Die Ausstellung per se funktioniert trotz ihrer Dichte, verharrt aber im Dokumentarischen: Mit Plakaten, Fotos, Zeitungsausschnitten und Videos werden Quellen präsentiert, sogar die Kunstwerke scheinen zu solchen zu werden. Sie berichten von einer Erinnerung und gedenken einer Zeit, die nicht mehr ist. Was passierte, nachdem die Orte verblüht waren? Die Vergangenheit lässt keinen Platz für die Gegenwart. Kriegsmaschine 1940; nicht zuletzt die Freundlichkeit gegenüber politischen Flüchtlingen. Tatsächlich gelang zehntausenden mitteleuropäischen Juden rechtzeitig die Flucht auf die Insel, viele machten glänzend Karriere. Die Kunsthistoriker Nikolaus Pevsner (europäische Architektur) und Ernst Gombrich (Kunst und Illusion), der legendäre Investmentbanker Siegmund Warburg, die Illustratorin und Schriftstellerin Judith Kerr (Als Hitler das rosa Kaninchen stahl) – viele Erfolgsgeschichten lassen sich erzählen.
Der hochgeehrte, längst von der Queen zum Ritter geschlagene Dramatiker Stoppard (Rosenkranz und Güldenstern, Arkadien) gehört dazu, Leo Chamberlain ist sein Alter Ego. In Interviews hat der 82-jährige Sir Tom auf sein Alter hingewiesen: Weil er für die Arbeit an einem Stück zuletzt vier Jahre brauchte, könnte Leopoldstadt sein letztes Werk sein. Es ist gewiss sein persönlichstes.
Der Vorhang hebt sich für die Weihnachtsfeier 1899 einer großbürgerlichen assimiliert-jüdischen Familie im zweiten Wiener Bezirk. Eine Vielzahl von Figuren bevölkert die Bühne, witzige Bemerkungen, Scherze über die Beschneidung soeben getaufter Säuglinge schwirren durch die Luft. Der reiche Industrielle Hermann Merz und