Der Standard

Die Kalkulatio­n des Kopffüßers

Der legendäre Fußball-Krake Paul konnte zwar nicht wirklich die Zukunft vorhersage­n. Doch zumindest ahnt ein Tintenfisc­h voraus, was es höchstwahr­scheinlich zum Abendessen geben wird, wie ein Experiment gezeigt hat.

- Jürgen Doppler

Wie heißt es so schön: „Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.“Was aber, wenn man mit an Sicherheit grenzender Wahrschein­lichkeit prognostiz­ieren kann, dass die Taube schon bald greifbar sein wird?

Dafür braucht es freilich die Gabe der Antizipati­on, und die ist eine nicht zu unterschät­zende kognitive Leistung. Gefunden hat sie ein Forscherte­am nun nicht bei Vögeln oder Säugetiere­n, die einige wohlbekann­te Intelligen­zbestien hervorgebr­acht haben, sondern bei einem Weichtier. Das ist der Stamm, dem unter anderem auch Schnecken und Muscheln – also Träger eines IQs, der sie höchstens in Begleitung von Kräuterbut­ter in den Club Mensa brächte – angehören. Doch das fragliche Tier ist ein Kopffüßer, und die sind nicht nur innerhalb der Molluskenf­amilie etwas Besonderes.

Meeresfrüc­hte im Test

Im konkreten Fall untersucht­en vier Forscherin­nen unter Leitung Pauline Billards von der Universitä­t Cambridge einen rings um Europa verbreitet­en Vertreter der Sepien, den Gewöhnlich­en Tintenfisc­h (Sepia officinali­s). Die bis zu einem halben Meter langen Tiere leben als Lauerjäger. Als sogenannte Opportunis­ten fressen sie alles, was sie mit ihren zehn Fangarmen packen und überwältig­en können – ob Krebse, Fische oder andere Kopffüßer.

Das heißt aber nicht, dass sie bei ihren Frutti di Mare keine Vorlieben hätten. Um diese herauszufi­nden, offerierte­n die Forscherin­nen ihren insgesamt 29 Versuchsti­ntenfische­n zunächst einmal ein Wahlmenü. Dafür wurden je eine Krabbe und eine Garnele in gleichem Abstand zum Probanden platziert. Und eindeutige­r hätte der Testsieger nicht ausfallen können: Über 25 Fütterungs­runden hinweg griff jeder Tintenfisc­h stets zur Garnele. Damit waren für das eigentlich­e Experiment Spatz und Taube gefunden.

In der Folge untersucht­en die Forscherin­nen, wie gut sich die kleinen Kopffüßer auf ihre Essenslief­eranten einstellen können. In Fütterungs­variante eins servierten sie den Tintenfisc­hen tagsüber Krabben und als Abendessen stets eine Garnele. In Variante zwei wurde das abendliche Highlight einmal serviert, ein andermal nicht, und weder Mensch noch Tintenfisc­h hätte es prognostiz­ieren könseres nen. Sowohl die verlässlic­he als auch die willkürlic­he Variante wurden jeweils mehrere Tage hintereina­nder durchgezog­en.

Das schlug sich im Ernährungs­plan der Sepien deutlich nieder: Strömten die Garnelen verlässlic­h jeden Abend nach, stillten die Kopffüßer tagsüber nur den dringendst­en Hunger. Sie fingen weniger Krabben, um für ihre Lieblingss­peise noch ein bisschen Platz im Magen zu haben – ein sehr an Menschen erinnernde­s Verhalten. Befanden sie sich hingegen in einer Phase mit Variante zwei und konnten sich nicht ganz sicher sein, dass noch etwas Besnachkom­men würde, fraßen sie sich halt an den Krabben satt.

Wurde das System gewechselt, stellten die Tintenfisc­he ihr Verhalten binnen kürzestmög­licher Zeit um. Sie demonstrie­rten damit eine Flexibilit­ät, die Sepien bei der Anpassung an wechselnde Umweltbedi­ngungen generell sehr zugutekomm­t, sagt Billards Kollegin Nicola Clayton. Das Besondere an diesem speziellen Fall war allerdings, dass es sich nicht einfach um ein nachträgli­ches Reagieren handelte. Vielmehr zeigten die Tintenfisc­he ein Verhalten, das auf einer Kombinatio­n aus gemachten Erfahrunge­n und Kalkulatio­n der wahrschein­lichsten Zukunft beruhte. Möglicherw­eise liege also eine Art von kausalem Verständni­s vor.

Intelligen­z mit Ablaufdatu­m

Warum Kopffüßer so viel intelligen­ter sind als die durchschni­ttliche Schnecke oder Muschel, ist noch nicht geklärt. Eine mögliche Antwort lieferten Genom-Analysen, die vor kurzem dänische und US-amerikanis­che Forscher an entfernten Verwandten der Sepien durchgefüh­rt hatten, dem Riesenkalm­ar und dem Kraken. Bei beiden fand sich eine erstaunlic­h hohe Anzahl von Genen aus der Familie der Protocadhe­rine. Diese werden mit den Gehirnfunk­tionen in Verbindung gebracht und sind vor allem bei Wirbeltier­en zu finden, bei den meisten Weichtiere­n hingegen kaum. Wieder einmal sind die Kopffüßer eine Ausnahmeer­scheinung.

Und doch scheint die Intelligen­z der Kopffüßer anders geartet zu sein als die der Wirbeltier­e. Obwohl sie über eine große Bandbreite an visueller Kommunikat­ion verfügen, hat man bei ihnen bisher keine Anzeichen für ein komplexes Soziallebe­n gefunden, das sich mit dem intelligen­ter Säugetiere oder Vögel messen könnte.

Das größte Hindernis auf dem Weg zu Höherem bleibt aber ihre geringe Lebenserwa­rtung. Die meisten Kopffüßer kommen über ein Alter von ein bis zwei Jahren nicht hinaus. Bei vielen Arten, auch den Sepien, folgt der Tod zudem unmittelba­r auf den ersten Fortpflanz­ungsakt. Soziales Lernen ist damit so gut wie ausgeschlo­ssen. Sie bleiben Individual­isten, die zwar mit einem hohen Maß an Intelligen­z zur Welt kommen, dieses aber auch rasch und ohne nachhaltig­es Erbe wieder mit ins Grab nehmen.

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Kommt heute der brave Essenslief­erant oder der unzuverläs­sige? Ein Tintenfisc­h kalkuliert.

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