Alles können, nichts müssen
Stundenlanges Warten schreckt die Besucher sexpositiver Partys nicht ab. Das Gefühl von Tabubruch und Grenzüberschreitung wird dort unter der Voraussetzung von Konsens gelebt. Nicht immer reibungslos.
Ob es eh okay für mich sei, fragt mich ein Anfang 20-Jähriger, der neben mir gemeinsam mit einem anderen Mann seine Hand unter den Stringtanga einer Frau geschoben hat. Ich habe einen kleinen Teil einer Couch am Rande der Tanzfläche ergattert, doch manchmal ragt ein Bein oder Ellenbogen in diesen Bereich hinein. Das stört mich nicht – eher habe ich das Gefühl, die Umsichtigkeit meines Nachbarn hindert ihn daran, sich der Situation völlig hinzugeben. Ich stehe auf – nicht ohne dem Dreiergespann zu signalisieren, es läge nicht an ihnen, und tanze wieder mit meiner Begleitung.
Wir haben uns im Vorfeld wenig Gedanken um unsere Aufmachung gemacht. Allein die Vorstellung, in Reizwäsche auf eine Technoparty zu gehen, fanden wir gewagt. Schnell fühlen wir uns gelangweilt, uns umringen Tanzende mit Bodypaintings, Harnischen und Federn, manche ganz nackt. Mit unseren halbtransparenten Spitzenbodys fallen wir durch viel Textil eher auf. Aber auch diese Form des Unwohlseins erledigt sich schnell, den Tanzenden scheint das egal zu sein, Oberflächlichkeiten wurden wortwörtlich an der Garderobe abgegeben. Doch bis dahin war es ein langer Weg.
Lange Wartezeiten
Hunderte Menschen standen in dieser kalten Winternacht trotz Temperaturen um den Gefrierpunkt stundenlang vor der Grellen Forelle, einem Technoclub am Wiener Donaukanal. Sie alle wollen „zusammen kommen“zu einer Sex-positive-Party. Nicht alle werden in den Club kommen, zu groß ist der Andrang. Viele sind extra angereist, etwa aus Innsbruck oder Berlin. Um ein Uhr herrscht Einlassstopp.
Seit August 2018 veranstaltet das Kollektiv Hausgemacht alle paar Monate Sexpositive-Partys in Wien. Bei Sex-Positivity wird der Fokus auf Freizügigkeit und Konsens gelegt – das unterscheidet die Veranstaltungen von Swingerclubs, die viele der heutigen Gäste dadurch abschrecken, dass Sex mit fremden Personen das Ziel und der Durchschnittsgast im mittleren Alter und männlich ist. Den Begriff haben Feministinnen der 80er-Jahre eingeführt, um sich von sexfeindlichen Mitstreiterinnen abzugrenzen. Begehren sollte nicht dem Patriarchat überlassen werden.
Bei Sex-positive-Partys geht es also um Sex – immer unter der Voraussetzung, dass alle Involvierten es auch wirklich wollen. „Alles zu können, aber nichts zu müssen“, fasst es eine Besucherin zusammen. Den ganzen Abend behält ein auf problematische Situationen geschultes AwarenessTeam das Geschehen im Auge.
Die Motivation, in den Club zu kommen, wird an der Tür abgefragt. „Ficken“ist keine gute Antwort. „Die Musik“reicht auch nicht aus. Es soll eine Mischung aus Lust auf Techno, sexueller Aufgeschlossenheit und Sensibilität vorhanden sein. Das Outfit muss dem strengen Dresscode entsprechen: Reizwäsche, Fetischkleidung oder nackt, aber keine Straßenkleidung. Auch was die Gäste unter Konsens verstehen, muss vor dem Einlass beantwortet werden.
„Ein ‚fuck you‘ ist kein Konsens, ein ‚fuck me‘ schon. Alles dazwischen ist übrigens auch kein Konsens.“Das steht auf einem Schild bei der Kloschlange zu den UnisexToiletten. Dank Darkrooms kommt die Schlange – zumindest für Frauen – schneller voran als bei gewöhnlichen Partys.
Denn beim „Zusammen Kommen“müssen sich Menschen, die sich näherkommen wollen, nicht auf die Toilette „verziehen“, es gibt den mit Vorhängen von der Tanzfläche abgetrennten Darkroom. Ab und an kommt es vor, dass jemand zu wild schmust und unter dem Vorhang hervorpurzelt. Wer wissen will, was im Darkroom vor sich geht, kann durch ein Edelstahlgitter hineinblicken, gaffen fällt aber schnell auf und wird nicht goutiert. In der Tiefe des Raumes verschwimmen die Umrisse von ineinander verschlungenen Körpern.
Eine Awareness-Mitarbeiterin stellt am Eingang sicher, dass sich Männer nicht ohne Begleitung in den Darkroom verirren. So stellt sie sicher, dass der Konsens der Frauen schon vor dem Betreten vorgeherrscht hat.
Versuch der Inklusion
Im Lokal herrscht striktes Kameraverbot, die Linsen der Smartphones werden an der Tür abgeklebt. Die Gastgeber wollen einen Ort schaffen, „an dem sich alle wohl und frei fühlen“. Tatsächlich finden sich hier neben verschiedenen sexuellen Identitäten mehr Menschen mit sichtbarer Behinderung oder People of Color als in der üblichen Wiener Clubszene. Doch die meisten Körper entsprechen dem gängigen Schönheitsideal. Ob die Veranstalter dem wirklich entgegenwirken, wenn sie festlegen, dass etwa SportBHs untersagt sind, ist fraglich.
Im Gedränge ergibt sich durch den Dresscode viel unbeabsichtigter Hautkontakt. Dennoch spüre ich, wie sich ein junger Mann in schwarzer Krawatte und Retroshorts an mich heftet, als ich vorbeigehe, um mich dann von hinten zu befummeln. Die Chance einzuwilligen habe ich nie bekommen. Dafür wäre Augenkontakt nötig gewesen, war aber geografisch nicht möglich. Obwohl das Anschwänzeln von hinten auch in anderen Lokalen nichts Ungewöhnliches ist, hat man dort zumindest mehr Stoff zwischen sich und dem Belästiger. Dagegen ist hier durch die Präsenz des Awareness-Teams schneller Beistand möglich, als Frau fühle ich mich nach unangenehmen Situationen nicht allein gelassen.
Damit dergleichen aber seltener passiert, wollen die Veranstalterinnen und Veranstalter nun bei Partys noch früher aussortieren: 60 Prozent der Tickets für die jüngste Veranstaltung am 14. Februar erhielt man nur im Vorverkauf. Dafür musste man einen Multiple-Choice-Test bestehen und mit einem Motivationsschreiben überzeugen. Mit einem so gewonnenen Ticket sollte man dann innerhalb eines festgelegten Zeitraumes auch ohne lange Wartezeit in den Club kommen. Ob das Konzept aufgegangen ist, war zu Redaktionsschluss noch nicht klar.
Alex, ein schwuler Mann in silbernen Cowboystiefeln, vermutet, dass die Party den enormen Andrang der Aufregung verdanke, die offenbar jede Party in Wien erzeugt, in der das Wort Sex vorkommt. Er habe jedenfalls schon Wilderes erlebt. Wenn ein schwuler Mann Sex haben will, wird er in einschlägigen Etablissements viel schneller und unkomplizierter fündig.
Für ihn ist die Kombination aus Freizügigkeit und zu „seiner“Musik zu tanzen der Grund fürs Kommen. Tatsächlich passiert viel Unerwartetes auch auf dem Tanzboden. Mal marschiert eine halbnackte Polonaise an uns vorbei, die mit Hundehalsbändern und Leinen verbunden ist, mal knallt eine Reitgerte auf eine entblößte Pobacke, manche haben auch hier Oralsex.
Viele Gästen befinden sich auf Mission, den eigenen Fetisch oder das anziehende Geschlecht zu entdecken – das würde auch das geringe Durchschnittsalter erklären. Meine Begleitung und ich rechnen uns mit Anfang 30 bereits zu den älteren Gästen.
Auch jener Mann, der mir zu später Stunde an der Bar auffällt, weil er wie Justin Timberlake aussieht, ist unter 30. Das Gespräch beginnt für mich klassisch wie auf den meisten anderen Partys: Ich spreche ihn selbst direkt an, in diesem Fall auf den schweren Rucksack auf seinem Rücken, weil die Garderobe voll war. Es war zwar einfacher, sich bereits auf der Party (körperlich) näherzukommen – in der üblichen Clubszene fühlt man sich durch die Blicke anderer oft gehemmter als in dieser Atmosphäre. Doch Unterhaltungen gehen auch hier im Bass verloren, es gibt zu viel Kunstnebel und zu wenig Licht für Details. Und zu Hause steht ein Bett mit Matratze.
*Die Autorin schreibt regelmäßig für den STANDARD, wählte für diesen Text aber ein Pseudonym.