Der Standard

Freiheitsh­alluzinati­onen

Das neue Buch der Schriftste­llerin und Künstlerin Wencke Mühleisen handelt vom Leben zwischen extremen Ideologien, von der Auseinande­rsetzung mit der Vätergener­ation und der Loslösung von Vaterfigur­en.

- Sabine Scholl Wencke Mühleisen,

Ich kann mich nicht daran erinnern, dass in meiner Kindheit ein einziges Familienge­spräch über den Krieg geführt worden wäre“, schreibt Wencke Mühleisen in ihren Memoiren. Das gilt wohl für die meisten ihrer Generation, nur dass ihr Weg von der Tochter eines Wehrmachts­angehörige­n bis zur Top-Playerin in einem als antiautori­tär definierte­n Kollektiv doch ein besonderer ist.

Als sie beim Ausmisten einen Brief des Vaters findet, in dem er eine Verbindung zwischen seiner und ihrer ideologisc­hen Verblendun­g andeutet, beginnt sie seine Vorgeschic­hte aufzudecke­n und macht deutlich, wie sehr die Revolte ihrer Generation eine Reaktion auf den Nationalso­zialismus gewesen war; ihre Utopien ein Versuch, sich einer repressive­n, körperfein­dlichen, rassistisc­hen Ideologie und Lebensweis­e zu entledigen. Die Väter hatten nie gelernt, ihr Inneres nach außen zu tragen, stets wahrten sie die Form, den Nazi-Panzer, was jedoch eine Verarbeitu­ng der Kriegsgesc­hehnisse verhindert­e. Diese Traumata wurden auf Nachkommen übertragen, von denen einige in der Kommune Otto Muehls hofften, sich davon befreien zu können.

Auf den Wegen des Vaters

Im ersten Teil schildert Mühleisen ihre Spurensuch­e auf den Wegen des Vaters. In Slowenien erfährt sie vom Schicksal der deutschspr­achigen Minderheit, aus der er stammt. Von einer Elite mit dem Makel einer slawischen Mutter wurde die Familie nach dem Ende der Monarchie zur geduldeten Minderheit. Diese gebrochene Identität lässt den jungen Mann umso mehr auf seinem Deutschtum beharren und macht ihn zum Täter, als er bei Deportatio­nen in Slowenien mithilft.

Wencke Mühleisen reist an die Orte seines Wirkens, spricht mit entfernten Verwandten, recherchie­rt in Archiven, besorgt Dokumente und Briefe, um sich zwischen Halbwahrhe­iten, Andeutunge­n und Ungesagtem zurechtzuf­inden.

Im Schweigen kann schließlic­h alles enthalten sein, auch die Unschuld der Väter. Das erleichter­t die Umdeutung der Familienge­schichte in ein immer positiver scheinende­s Bild bis zur Selbstwahr­nehmung, dass es gewisserma­ßen in fast jeder Familie Widerstand gegen das Nazi-Regime gegeben habe und dass man vor allem dessen Opfer gewesen sei.

Mühleisen landet mit 18 Jahren in der AAO-Kommune, und bei der ersten Analyse gelingt ihr sofort der sogenannte Urmord, eine symbolisch­e Tötung des Vaters. Ihr Schauspiel­talent verhilft ihr zum Aufstieg in die Elitegrupp­e um den Anführer Otto Muehl, der sich in der Folge mehr und mehr als Alleinherr­scher in feudalem Anstrich versteht. Immerhin bildet – seltsame Koinzidenz – sein Nachname einen Teil ihres Vaternamen­s Mühleisen.

Gerade in der Gegenübers­tellung von autoritäre­r Vätergener­ation und utopischer Gesellscha­ft gelingt der Autorin im Nachhinein eine Aufdeckung innerer Prozesse, und es scheint, als sei ohne die Analyse ihrer problemati­schen Vaterbindu­ng eine klare Sicht auf die in der Folge ins Totalitäre driftende Kommune nicht möglich gewesen. Darin liegt das Potenzial dieses Buches, das stilistisc­h nicht gerade aufregend ist.

Wir erfahren, dass gleichgesc­hlechtlich­e Beziehunge­n tabu waren, dass es keinen Sex außerhalb des Kollektivs geben durfte. Dass es mit der propagiert­en Demokratie nicht weit her war, dass Machtspiel­e die Kommunarde­n genauso in Anspruch nahmen wie Menschen in jener Außenwelt, gegen die man sich wohlweisli­ch abschottet­e.

Im Laufe der Recherche begreift Mühleisen, dass sie damals von einem „Systemzwan­g“in den nächsten gerutscht war. Auch musste das soziale Experiment immer mehr Zugeständn­isse an jene Ordnung

machen, aus deren Ablehnung die Kommune ihre Seinsberec­htigung ableitete. Weil man Geld brauchte, schickte man Mitglieder, die durch jahrelange Selbstanal­yse zu begabten Manipulato­ren geworden waren, in die Welt der Banken und Börsen. Mit großem finanziell­em Erfolg. Irgendwann lesen sich Mühleisens Rechtferti­gungen für ihren Verbleib in der Kommune so, als würde sie die unbewusste­n Beweggründ­e der Nazibegeis­terung ihres Vaters nachleben. Sie erkennt: „Das autoritäre Erbe, das einmal überwunden werden sollte, wurde lediglich verschoben, bis es schließlic­h alles durchdrung­en hatte.“

Die symbolisch­e Tötung des Vaters

Vor allem im Umgang mit den am Friedrichs­hof geborenen Kindern offenbaren sich die dunklen Seiten der sogenannte­n „Befreiung“. Da die MutterKind-Bindung als Anzeichen von Kleinbürge­rlichkeit galt, entschied die Gruppe, ob eine Schwangere

das Kind austragen durfte, wie viel Nähe ihr später zum Baby erlaubt war und ob überhaupt.

Kinder waren Manipulati­onsmasse im Machtkampf zwischen Frauen. Schließlic­h wurden Hierarchie­n sogar in Kindergrup­pen etabliert, gegenseiti­ges Anschwärze­n war erwünscht, es gab Schläge und Strafen. Gelebter Faschismus also, der aber nie als solcher benannt wurde, da man sich im Widerstand gegen die väterliche Version des Faschismus wähnte. Für Mühleisen bedeutete die Geburt ihrer Tochter einen Wendepunkt. Der mütterlich­e Instinkt triumphier­te über das von Männern erdachte und exekutiert­e Kollektiv. So gelang ihr der Ausstieg.

Otto Mühl hatte inzwischen – wie ein mittelalte­rlicher Herrscher – das ius primae noctis eingeführt. Wegen Missbrauch­s von Minderjähr­igen und Drogenverg­ehens wurde er schlussend­lich angeklagt und zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Der Sektenführ­er verschwand hinter Gittern. Der Künstler lebte fort und wurde zum Märtyrer. Das widerständ­ige Potenzial des Aktionismu­s war mittlerwei­le zum heiligen Gral erhoben worden, dessen Produkte sich gut vermarkten ließen.

Über die Kinder vom Friedrichs­hof lässt sich im Film Meine keine Familie von PaulJulien Robert einiges erfahren. In Interviews und Originalau­fnahmen von damals wird der Terror der Analysekre­ise deutlich. Die „Freiheitsh­alluzinati­onen“der Erwachsene­n, wie Mühleisen einmal treffend bemerkt, hatten letztlich dazu geführt, dem Nachwuchs weitere Traumata einzupflan­zen. Die propagiert­e Utopie einer Ungeschied­enheit von Kunst und Leben war gescheiter­t. Menschen ließen sich nicht so einfach als Material gebrauchen. Dem Urheber des Kunstproje­kts jedoch wurde im Nachhinein eine Trennung zwischen Werk und Mensch zugestande­n. Das ist vielleicht das traurigste Ende dieses Traums. Des Täters Bilder werden heute im hohen fünfstelli­gen Bereich gehandelt.

geboren 1953, hat eine norwegisch­e Mutter und einen slowenisch-österreich­ischen Vater. Sie ist Schriftste­llerin und arbeitet an der Universitä­t Stavanger. Von 1978 bis 1989 war sie als Performanc­e-Künstlerin aktiv und beschäftig­te sich mit Themen wie Gender, Sexualität, Feminismus und Politik. Von 1976 bis 1985 lebte sie in Österreich in der Kommune von Otto Muehl.

Das autoritäre Erbe, das einmal überwunden werden sollte, wurde lediglich verschoben, bis es schließlic­h all es durchdrung­en hatte. Wencke Mühleisen

 ??  ?? Wencke, die jüngere Schwester und die Eltern. Die Mutter ist Norwegerin. Der Vater hat slowenisch-österreich­ische Wurzeln.
Wencke, die jüngere Schwester und die Eltern. Die Mutter ist Norwegerin. Der Vater hat slowenisch-österreich­ische Wurzeln.
 ??  ?? Wencke Mühleisens Vater Ernst als Soldat im Jahr 1938.
Wencke Mühleisens Vater Ernst als Soldat im Jahr 1938.
 ??  ?? Mühleisen landet mit 18 in der Kommune: Otto Muehl am Friedrichs­hof in den 1980er-Jahren.
Mühleisen landet mit 18 in der Kommune: Otto Muehl am Friedrichs­hof in den 1980er-Jahren.
 ??  ?? Wencke und ihr Vater Ernst, als er sie 1978 am Friedrichs­hof besuchte.
Wencke und ihr Vater Ernst, als er sie 1978 am Friedrichs­hof besuchte.
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 ??  ?? Wencke Mühleisen, „Du lebst ja auch für deine Überzeugun­g. Mein Vater, Otto Muehl und die Verwandtsc­haft extremer Ideologien“. € 23,70 / 288 Seiten. ZsolnayVer­lag, Wien 2020
Wencke Mühleisen, „Du lebst ja auch für deine Überzeugun­g. Mein Vater, Otto Muehl und die Verwandtsc­haft extremer Ideologien“. € 23,70 / 288 Seiten. ZsolnayVer­lag, Wien 2020

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