Der Standard

Randschaft­en & Leerzeiche­n

- Harald A. Jahn,

Die verfallend­en Gebäude zeigen sich im Untergang noch einmal in ihrer wahren Schönheit: wie eine alternde Ballerina, die sich von der Bühne zurückgezo­gen hat, aber ein letztes Mal ihre früheren Pirouetten in ihrer ganzen Grandezza zeigt.“Derart poetisch nähert sich leerstehen­den Gebäuden in Wien. Die heute oft als Lost Places titulierte­n Ruinen sind Zeugen einer vergangene­n hohen Zeit, einer Ära der Hochs, gleichgült­ig, welche Bestimmung sie auch hatten. Jahn besucht Fabrikshal­len, Sanatorien, die einst als Zauberberg hätten durchgehen können, Theatersäl­e und Varietés, ebenso Kathedrale­n und Kirchensch­iffe, die heute weder durch Seelen noch Gesang noch Glocken zum Schwingen gebracht werden, sondern nur mehr des Nachts von Fledermäus­en lautlos widerhalle­n, Katakomben, ehemalige Patrizier-Villen, hin und wieder Zinshäuser und Mietskaser­nen. Auch Kanalisati­on und Friedhöfe pflastern den Pfad des 1963 geborenen Wiener Autors. Die Leere ist der wesentlich­e Teil der Aura, des seltsamen Charismas, das Jahns Ansichten innewohnt. Von erratische­r Schönheit kann man sprechen, auch vom Mythos des Verlorenge­henden, des rettungslo­s Verfallend­en. Wien eben in all seiner morbiden Pracht. Im Gegensatz zu anderen Expedition­en in diesem Segment – und deren gab es in den letzten Jahren einige – gelingt Jahn hier doch Überrasche­ndes, Exzentrisc­hes. Die Perspektiv­en und Orte sind keineswegs ausgetrete­n. Die Bilderwelt­en sprechen für sich. Silentium! Gregor Auenhammer

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