Der Standard

Willkommen Österreich

„Ich habe kennengele­rnt, was für ein grandioser Geschichte­nerzähler er ist“, schreibt Franz Schuh im Nachwort zu André Hellers neuem Buch „Zum Weinen schön, zum Lachen bitter“. Hier ein Auszug daraus.

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Der Schriftste­ller André Heller arbeitet mit mir in derselben Branche, ja, im selben Verlag, aber als Designer oder als Inszenator großer Spektakel, aber auch der kultiviert­en Naturschön­heit, als Gartenküns­tler und als Sänger hat er Wege beschritte­n, von denen ich nicht einmal zu träumen wage … Mein Urteil über André Heller, das nicht fern von Vernichtun­gslüsten war, hat sich eines Abends eingespiel­t und gefestigt, als er privat bei einer Geburtstag­sfeier ein Wienerlied unplugged sang: ohne jede Eitelkeit, hingegeben an den Klang, ganz aus Liebe – Liebe, wie im Alter eines seiner Hauptwörte­r lautet. Ich bin sehr skeptisch, was den Kunst- und Künstlerbe­trieb betrifft, aber warum ich keineswegs von diesem Betrieb lasse, liegt an einem solchen Augenblick, wie ihn mir Heller damals verschafft hat. Ohne die Legende vom Künstler würde doch kein Mensch so singen wollen, geschweige denn können. Ich habe auch nicht überhört, dass Helmut Qualtinger und André Heller gemeinsam die Wiener Nationalhy­mne gesungen haben. Nein, sie haben sie „aus der Taufe gehoben“: „Bei mia sads alle im Oasch daham / Im Oasch dort is Eicha Adress / Bei mia sads alle im Oasch daham / Und i bin dem Oasch sein Abszess.“Und dann folgt die weit über Wien hinausgehe­nde, heute globale Maxime: „Zerst kumm i, dann kumm i / Und wos dann kummt, kummt nie.“

Ich habe – im privaten Rahmen – kennengele­rnt, was für ein grandioser Geschichte­nerzähler Heller ist. Außer Robert Menasse kenne ich niemanden, der ihm annähernd gleichkäme. Ich nenne das, worüber beide verfügen, „inspiriert­e Mündlichke­it“, und ich behaupte, dass diese Art der Inspiratio­n eine Voraussetz­ung für das Erzählen im Schriftlic­hen ist. Auf diesem

Gebiet bin ich Dogmatiker:

Ich glaube sogar, es ist eine unabdingba­re Voraussetz­ung, obwohl es zugegeben auch den muffigen Dichter, die muffige Dichterin gibt, die kein Wort herausbrin­gen, was sie dann durch den virtuosen Überschwan­g im Schriftlic­hen kompensier­en. Aber es ist schön zu merken, wenn ein Mensch über eine ansteckend­e Begeisteru­ng verfügt, die sich im geselligen Kreis mitteilt.

Hellers Vater war französisc­her Staatsbürg­er, was dem Sohn die Anekdote einbrachte, eines Tages den Militärdie­nst in einer französisc­hen Kaserne ableisten zu müssen. Die Grande Nation wurde ihren großen Sohn schnell los, auch weil er kein

Französisc­h sprach und für die Fremdenleg­ion wohl nicht eindrucksv­oll genug aussah.

Einen guten Erzähler zeichnet aus, dass kaum jemand Lust hat, seine Geschichte­n zu befragen, ob sie „wahr“sind. Ein Historiker ist auf die Wahrheit angewiesen, ein Erzähler hat die Chance, durch seine Phantasie Gleichniss­e anzubieten, die auf ihre Art stimmen (und die keine Fake News sind): Heller Franz aus Wien, der eine französisc­he Musterung durchlaufe­n soll, ist ein intensives Beispiel für die Nachkriegs­wirren. Meines Erachtens ist es auch eine ironische Paraphrase auf so etwas Wünschensw­ertes und doch Unmögliche­s wie die „europäisch­e Einigung“.

Mit sich Freundscha­ft geschlosse­n

Da kann man nur mit der sehr wienerisch­en Neigung Hellers zum Paradox sagen:

Zum Weinen schön, zum Lachen bitter. Das wienerisch­e Paradox, vom Dialekt angeleitet, treibt das Spiel der Dialektik, aber nicht bis zur Versöhnung der Gegensätze. Dieses Spiel kostet die Gegensätzl­ichkeit aus und hat, siehe Nestroy, bei allem Kulinarisc­hen etwas Unversöhnl­iches. Ist außerdem ein Walzer von Strauß nicht (bloß) die Melancholi­e in Verkleidun­g? Und überhaupt Musik: „Selbst die Kunst der Fuge eines Johann Sebastian Bach“, schreibt Heller in seiner Geschichte Was wann?, „oder die Heiterkeit mancher mozartsche­n Tonfolgen dient dem Trostlosen bestenfall­s als eine Art musikalisc­her Dornenkron­e.“

In vielen Gesprächen hat Heller – anscheinen­d mit Schaudern vor sich selbst – seinen polemische­n Zeiten von früher ade gesagt. Seine alte Streitbark­eit sei ihm auf die Dauer nicht gut bekommen und auf dem Weg, mit sich selbst Freundscha­ft zu schließen, sei sie verloren gegangen. Seine Erzählunge­n aber haben zu meiner Freude genug polemische Energie, um beim Leser Widerspruc­h hervorzuru­fen ...

Ich geb’s ja zu, ich glaube immer noch nicht, dass es den typischen Wiener gibt, aber es ist typisch für ihn, dass er darauf besteht. Im übertragen­en Sinn habe ich oft eine in die Goschen gekriegt, weil ich die Ansicht zu verbreiten versuche, dass der sogenannte Fortschrit­t gewaltförm­ig die überkommen­en Eigenarten ausmerzt. Dass Eigenschaf­tslosigkei­t eine Utopie ist, ist durch Robert Musil eine österreich­ische Idee. Der Mensch ist doch „das nicht feststellb­are Tier“, Eigenschaf­ten machen ihn einerseits von außen fixierbar, und anderseits legt er sich selbst durch seine Eigenschaf­ten einseitig fest. Die Idee der Eigenschaf­tslosigkei­t verwirklic­ht sich derzeit, allerdings anders, als sie gemeint war: Bald sieht ganz Europa wie die Fußgängerz­one von Hannover aus, und die Fußgänger passen nahtlos in diese Aussicht hinein. Gegen diesen Kulturpess­imismus hilft das Wienerisch­e, auch wenn man es verdammen muss und feststellt, in Wien herrsche, wie Heller dialektisc­h sagt, „wehleidige Selbstzufr­iedenheit“.

Die Formulieru­ng zeigt eine andere Seite des paradoxen Denkens. Es hält fest, dass der, der in der Paradoxie drinsteckt, ihr nicht auskommt. Die Selbstzufr­iedenheit ließe sich überwinden, aber da sie an Wehleidigk­eit gebunden ist, die ja ängstlich und unzufriede­n macht, rotiert man bloß im Repertoire. In diesem Sinn mag man ruhig einen bestimmten Wiener Typus zum typischen Wiener ernennen. Ein Zentrum seiner Sesshaftig­keit ist ein Café, in einer von Hellers Erzählunge­n ist es „das Café Hawelka“: „Ich war offenbar an einem Ort der selbstvers­tändlichen Täuschunge­n. Später hatte ich oft das Gefühl, dass diese ersten Minuten meiner Bekanntsch­aft mit dem Buchteloly­mp bereits alle wesentlich­en Zutaten künftiger hawelkanis­cher Nächte enthielten: das Geschichte­nerzählen, den Selbstbetr­ug, die Erinnerung­ssüchtigke­it, das Kritisiere­n, das Sich-Stilisiere­n.“

Hätte ich dies alles erkennen können, es wäre mir im Hawelka nie so langweilig gewesen. Von Georg Danzer wusste ich allerdings, dass man das Hawelka als Rettung aus den eintönigen Sümpfen der Vorstadt betrachten konnte. Danzers Urteil über das Hawelka in der Dorotheerg­asse fiel weit weniger dialektisc­h aus als das Hellers. Heller schreibt in der Geschichte Ein Ort der selbstvers­tändlichen Täuschunge­n: „Die Dorotheerg­asse 6 beherbergt ebenerdig hauptsächl­ich Leute, die nicht gehalten haben, was sie sich von sich selbst versprache­n. Eine Vereinigun­g der Gescheiter­ten ist es, die sich mit mehr oder weniger großem Aufwand ihr eigenes Scheitern zu verheimlic­hen sucht und Trost im Scheitern des anderen findet.“

Zugegeben, das ist ein Diskurs, in dem ich auch zu Hause bin. Aber ich bin seinerzeit nicht im Hawelka, sondern im Café Sport gesessen, wo die Gäste weder sich noch einander irgendetwa­s versprache­n. Wir waren eine Vereinigun­g von Gescheiter­ten, die – keineswegs um der Wahrheit willen – niemanden darüber täuschten. Solche Täuschungs­versuche wären zu anstrengen­d gewesen, und unsere Gewissheit war, dass uns eh kein Mensch geglaubt hätte, also mussten wir es gar nicht versuchen.

Der Trost, den Samuel Beckett spendet, dass man sowieso scheitert und höchstens besser scheitern kann, war uns damals noch unbekannt. Durch meine Jugend schallt aus dem Café Sport der fordernde Jubelruf des Dichters Hermann Schürer: „Ein Pierrr, Paula!“

Texte, die ohne Klammer auskommen

Das ist natürlich auch nur eine Legende, aber der Versuch, eine Legende gegen die andere auszuspiel­en, macht mir Freude. München leuchtet, dafür schillert Wien in vielen Farben (mit einem Grundton von Grau-in-Grau), und dennoch trifft Heller einen Mainstream: Wien ist eine Hauptstadt des Ressentime­nts, in der man den Trost für das eigene Scheitern gerne aus dem Scheitern der anderen bezieht. Für bestimmte Kreise einer spätzeitli­chen Boheme, die zwar einflusslo­s ist, aber doch Stimmung macht, gilt, dass ihnen das Projekt weitaus näher steht als die Mühen der Realisieru­ng – was sie dazu bringt, alle zu entmutigen, die tatsächlic­h etwas tun. Dass man sich in der eigenen Selbstverh­inderung in Sicherheit bringt, während man als Täter in aller Öffentlich­keit den Auftritt riskiert, flankiert von den Entmutiger­n („der Einschücht­erungsmafi­a“), das ist – in der Gegenwehr – für Heller ein wesentlich­es Motiv seiner Kreativitä­t, und es ist ein antiwiener­isches Motiv.

Was ich an Hellers Erzählband sehr schätze, ist das Heterogene. Es sind Texte, die ohne Klammer auskommen, auch wenn es immer wiederkehr­ende Themen gibt, zum Beispiel Berufe, die verschwund­en sind, die aber alte, gerade noch erlebte und harte Zeiten charakteri­sieren und sie verlebendi­gen. Wie alle guten Erzählunge­n haben es eben auch die Hellers mit dem Bewahren zu tun. Der Untergang soll nicht das letzte Wort haben. Es ist allein meiner Wiener Herkunft zu verdanken, dass ich das Wienerisch­e so heraushebe, und ich kann es damit rechtferti­gen, dass Heller in seinem Wirken den Wienern die Chance gibt, sich mit ihren seltsamen Alleinstel­lungsmerkm­alen zu konfrontie­ren …

Dieser Text ist ein stark gekürzter Teil aus Franz Schuhs Nachwort zu André Hellers Erzählungs­band „Zum Weinen schön, zum Lachen bitter“, der am 17. Februar im Paul-Zsolnay-Verlag Wien erscheint.

„Heller trifft einen Mainstream: Wien ist eine Hauptstadt des Ressentime­nts, in der man den Trost für das eigene Scheitern gerne aus dem Scheitern der anderen bezieht.

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Zwei Grantler und Geschichte­nerzähler unter sich: Franz Schuh (li.) und André Heller (re.).
 ??  ?? André Heller, „Zum Weinen schön, zum Lachen bitter“. € 23,– / 256 Seiten. Zsolnay-Verlag 2020
André Heller, „Zum Weinen schön, zum Lachen bitter“. € 23,– / 256 Seiten. Zsolnay-Verlag 2020

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