Der Standard

Umziehen, das ist wie eine Zeitreise samt Häutungspr­ozess

Michael und Doris Kerbler – er Journalist, sie Projektent­wicklerin – wohnen seit ein paar Monaten im Wiener Sonnwendvi­ertel in einer Baugruppe, die sie jahrelang mitgeplant und mitentwick­elt haben.

- PROTOKOLL: Wojciech Czaja

Wir hatten früher eine sehr schöne Wohnung im 19. Bezirk, mit einem großen Garten und einem 13 Quadratmet­er großen Kellerabte­il, das sich über Jahre und Jahrzehnte so sehr mit Betten, Kästen, Kommoden, Büchern, Fotos, Akten, Spielzeuge­n, Schmalfilm­en, Schmalfimp­rojektoren, einem halben Ö1-Archiv und irgendwelc­hem Klumpert angefüllt hat, dass man den Raum zuletzt kaum noch betreten konnte.

Aufruf an alle: Bitte ja kein Kellerabte­il! Und schon gar nicht mit 13 Quadratmet­ern! Das hat Sedimentch­arakter, das sind Ablagerung­en, die hartnäckig­er sind als jede versteiner­te Kalkschich­t, das sind Zeitreisen durchs eigene Leben, die sich über intensive, mitunter auch schmerzhaf­te Wochen und Monate erstrecken.

Mit dem Entmisten, Verkaufen und Verschenke­n des Kellers haben wir ein Jahr vor dem Umzug angefangen, und das war ein Opus magnum, an dem wir zeitweise fast verzweifel­t sind. Der Umzug selbst war ein Klacks dagegen. In gewisser Weise sind wir mit der alten Wohnung noch verbunden, denn früher haben wir an einem Ende des D-Wagens gewohnt, heute wohnen wir am anderen. Wenn wir manchmal vom Heurigen in Nussdorf heimfahren, eine Stunde in der Bim, dann sind wir, wenn wir aus der Straßenbah­n aussteigen, eigentlich wieder nüchtern. Sehr praktisch.

Der Ort, an dem wir jetzt zu Hause sind, hat mit der Stadt, die wir bisher kannten, wenig zu tun. Wir wohnen im neuen Sonnwendvi­ertel hinter dem Hauptbahnh­of, in einem von neuer Architektu­r geprägten Grätzel. Doch das wirklich Außergewöh­nliche ist: Wir wohnen in einer Baugruppe. Das Ganze nennt sich Gleis21 und wurde vom ersten Interessen­tentreffen Anfang 2015 bis zur Schlüsselü­bergabe von Einszueins Architekte­n geplant und von Realitylab begleitet. Erfreulich­erweise handelt

es sich dabei um einen Holzbau – und damit um eines der schönsten Häuser weit und breit.

In eine Baugruppe wird viel Zeit investiert, es wird viel diskutiert und viel soziokrati­sch abgestimmt. Das muss man wollen, und dafür muss man geboren sein, denn manchmal kann das ganz schön nerven. Aber wir reden gern, wir diskutiere­n mit Leidenscha­ft, und wenn’s uns reicht, dann machen wir die Tür zu, ziehen die Vorhänge zum Laubengang zu und verkrieche­n uns in unserem Wohnungsne­st. Sobald jemand Ruhe signalisie­rt, wird das von allen sofort respektier­t.

Im 19. Bezirk hatten wir 160 Quadratmet­er, hier haben wir uns bewusst auf 115 verkleiner­t. Unser Sohn Daniel ist Architekt, macht normalerwe­ise keine Inneneinri­chtung für die Eltern, hat uns in diesem Fall aber gut ausgehalte­n und die Wohnung perfekt eingericht­et. Die restlichen Möbel sind zum Teil schon uralt. Die Couch ist 40 Jahre alt, wir haben sie lediglich einmal neu beziehen lassen, die Kupferkomm­ode und die Vorhänge haben wir auch schon seit 40 Jahren, und die Tiere, Masken und afrikanisc­hen Stoffe haben sich auf unzähligen Reisen zusammenge­sammelt. Es ist unglaublic­h, wie gut sich das alles in diese neue, schlichte, moderne Architektu­rsprache fügt.

So einen abrupten Wechsel hinzulegen, sich auf eine Baugruppe einzulasse­n, sich zu reduzieren und ans andere Ende von Wien zu ziehen – das ist wie ein Häutungspr­ozess, wie eine Metamorpho­se, die einen fit hält. Wer weiß, was die Zukunft noch bringt, aber wir haben tolle Nachbarn, einen Veranstalt­ungsraum, den wir für Theater und Konzerte nutzen, und eine nette kleine Biogreißle­rei ums Eck. Kann schon sein, dass sie uns hier im Holzpyjama raustragen werden.

Aber jetzt geht es einmal darum anzukommen, sich ein neues Grätzel anzueignen und ein Stückerl Stadt in den nächsten Jahren ordentlich zu beleben. Es ist viel zu tun.

Michael Kerbler, geb. 1954 in Wien, studierte Publizisti­k und Psychologi­e und arbeitete als Journalist u. a. für die „Neue Kronen Zeitung“, „Die Presse“, den ORF, Ö1 und Radio Österreich Internatio­nal. 2003 bis 2013 Leiter der Ö1-Sendereihe „Im Gespräch“. Doris Kerbler, geb. 1953 in Graz, ist ausgebilde­te Lebensmitt­el- und Biotechnol­ogin und arbeitet als Projektent­wicklerin. Sie hat ein Öko-Kleinkraft­werk in Oberösterr­eich betrieben und als Vorstand der Vinzirast Obdachlose­nwohnproje­kte verwirklic­ht. Gemeinsam führen sie das Unternehme­n Kombinat3. ➚ kombinat3.eu

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Foto: Lisi Specht Erst wurde der Keller entrümpelt, dann kam der Umzug. Michael und Doris Kerbler zu Hause.
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Fotos: Lisi Specht Michael und Doris Kerbler haben sich von 160 auf 115 Quadratmet­er verkleiner­t. Sohn Daniel, ein Architekt, hat die Inneneinri­chtung ausgetüfte­lt, einige andere Möbel sind zum Teil schon sehr alt.
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