Der Standard

Zuckerbrot und Peitsche für Algerien

Sie ist zugleich hartnäckig und friedlich – aber auch führungslo­s. Algeriens Protestbew­egung denkt auch ein Jahr nach Beginn der Massenprot­este nicht daran, jemals aufzugeben.

- Philip Sofian Naceur

Auch nach 52 Wochen beständige­r Mobilisier­ung gehen die regierungs­kritischen Massenprot­este in Algerien unverminde­rt weiter. Seit dem Wochenende erhalten sie erneut massiven Zulauf, jährt sich doch die Geburt der Protestbew­egung – im Land „Hirak“genannt – zum ersten Mal. Am Sonntag waren allein in der Kleinstadt Kherrata nahe der Opposition­shochburg Béjaïa in der Berberregi­on Kabylei Zehntausen­de auf die Straße gegangen und hatten den Forderunge­n nach einem echten politische­n Wandel Nachdruck verliehen. „Ein ziviler Staat, kein militärisc­her!“und „Ihr müsst alle gehen!“, hallte es stundenlan­g und lauthals durch Kherrata.

Am 16. Februar 2019 kam es hier, in anderen Städten der Kabylei und im Osten Algeriens zu ersten spontanen Demonstrat­ionen gegen die autokratis­che und korrupte Staatsführ­ung. Eine Woche später griffen die Proteste auf das gesamte Land über und setzten damit eine Dynamik in Gang, die Algerien bis heute in Atem hält.

Auslöser dieser ersten politisch motivierte­n Großdemos seit Jahren

war die groteske Präsidents­chaftskand­idatur des greisen Expräsiden­ten Abdelaziz Bouteflika, der bei der im April geplanten Wahl für ein fünftes Mandat kandidiere­n wollte. Kurz vor dem Wahltermin zog das aus einem intranspar­enten Geflecht aus Militärs, politische­n Parteien, der Staatsbüro­kratie und privaten Wirtschaft­seliten bestehende Regime erste Konsequenz­en aus der Massenmobi­lisierung und zwang Bouteflika zum Rücktritt.

Viel hat sich seither getan, doch der beharrlich eingeforde­rte Wandel blieb aus. Die herrschend­en Eliten erwiesen sich als äußerst widerstand­sfähig und in der Lage, sich mit einer reichen Palette an oberflächl­ichen Zugeständn­issen und Ablenkungs­manövern Zeit zu erkaufen. Dutzenden hochrangig­en Vertrauten Bouteflika­s wird seither wegen Korruption­svorwürfen der Prozess gemacht, doch einflussre­iche Teile der alten Garde sitzen weiterhin an den Schalthebe­ln der Macht. Vor allem der Sicherheit­sapparat hat seinen politische­n Einfluss stark ausgeweite­t und wird seine Privilegie­n nicht kampflos aufgeben.

Seit Oktober setzt die personell neu aufgestell­te Staatsklas­se – die inzwischen formell von dem in einem intranspar­enten Urnengang im Dezember zum neuen Staatschef gewählten Abdelmajid Tebboune angeführt wird – dabei auf eine Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche. Während die Staatsführ­ung mit behutsamen Konzession­en und vom Hirak misstrauis­ch beäugten Reformvers­prechen versucht, die Bewegung auszubrems­en, geht der Sicherheit­sapparat weiter mit Repressali­en gegen Demonstran­ten und Opposition­elle vor.

Vor Gericht und in Haft

Fast 1400 Hirak-Aktivisten müssen sich nach Angaben des der Protestbew­egung nahestehen­den „Komitees zur Befreiung der Gefangenen“mittlerwei­le vor Gericht verantwort­en, mehrere Hundert sitzen schon hinter Gittern.

Tebboune versprach derweil eine Verfassung­sreform, die politische Freiheiten garantiere, zudem eine Änderung der Wahlgesetz­e und kurzfristi­g kaum zu finanziere­nde sozioökono­mische Verbesseru­ngen. Der Staatschef versucht zudem, seine begrenzte Legitimitä­t im Land durch außenpolit­ische Initiative­n zu stärken und mischt sich vermehrt als Mediator in die Libyen-Krise ein.

Noch lässt sich der konsequent friedlich agierende Hirak durch die Repressali­en nicht einschücht­ern und ist immer noch fähig, in beachtlich­er Manier zu mobilisier­en. Doch die Bewegung ist immer noch führungslo­s und nur partiell strukturie­rt, muss über kurz oder lang aber eine konkretere Alternativ­e zum Status quo anbieten; droht das Regime doch ansonsten mit seiner Strategie des Aussitzens endgültig die Oberhand zu gewinnen.

Erst am Sonntag lancierten opposition­elle Akteure eine neue Initiative, um sämtliche im Hirak vertretene­n Strömungen bei einer Konferenz an einen Tisch zu bekommen. Mehrere ähnliche Vorstöße waren seit Mitte 2019 jedoch im Sand verlaufen. Es setzt sich in der Bewegung aber allmählich die Erkenntnis durch, dass Liberale, Linke und Konservati­ve Kompromiss­e eingehen müssen, wollen sie das Regime wirklich zu nachhaltig­en Reformen zwingen.

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