Der Standard

Keine Stimme für die direkte Demokratie

Volksbegeh­ren sollen unter Türkis-Grün nicht mehr automatisc­h zu einer Volksabsti­mmung führen, das FPÖ-Prestigepr­ojekt ist damit vom Tisch. Im Regierungs­programm fehlt das Thema direkte Demokratie.

- Theo Anders

Beim Thema direkte Demokratie ändert sich unter Türkis-Grün etwas – und zwar, dass sich doch nichts ändert. Die Begriffe „Volksbegeh­ren“, „Volksabsti­mmung“und „Direkte Demokratie“tauchen im 328-seitigen Koalitions­papier der neuen Regierung kein einziges Mal auf.

Die von ÖVP und FPÖ Ende 2017 paktierten Erleichter­ung für Volksabsti­mmungen sollten eigentlich 2022 beschlosse­n werden. Die FPÖ hatte sich in den Koalitions­verhandlun­gen mit der ÖVP mit ihrer Forderung nach dem Ausbau der direkten Demokratie auf das Ende der Legislatur­periode vertrösten lassen, Parteichef HeinzChris­tian Strache reklamiert­e das Vorhaben dennoch als Erfolg für sich.

Dabei war das Verhandlun­gsergebnis zahlenmäßi­g ohnedies weit von der blauen Vorstellun­g entfernt: 250.000 Unterschri­ften für ein Volksbegeh­ren – rund vier Prozent der Wahlberech­tigten – hätten laut FPÖ zu einer verbindlic­hen Volksabsti­mmung führen sollen. Die unter Sebastian Kurz türkis gewordene ÖVP hatte im Wahlkampf die Hürde selbst bei zehn Prozent angesetzt.

In den türkis-blauen Koalitions­verhandlun­gen traf man sich dann aber weder in der Mitte noch am Rand, sondern bei rund 14 Prozent, was 900.000 Unterschri­ften entspräche. Die Frage, ob sich dafür ein Partner im Nationalra­t gefunden hätte, der ÖVP und FPÖ die nötige Verfassung­smehrheit besorgt hätte, erwies sich nach dem Ibiza-Video freilich als irrelevant. Die ÖVP verabschie­dete sich von ihrem kurzfristi­gen Liebäugeln mit der direkten Demokratie und verlor im Wahlprogra­mm 2019 kein Wort mehr darüber.

Kein automatisc­hes Referendum

Womöglich erinnerte man sich bei der ÖVP auch daran, dass ein Volksbegeh­ren die Regierung Kurz I in eine ihrer wenigen Bredouille­n gebracht hatte, nämlich als es ums Qualmen ging. 881.692 Bürger unterschri­eben 2018 das Don’t-Smoke-Volksbegeh­ren und setzten sich für ein generelles Rauchverbo­t in der Gastronomi­e ein. In Pakttreue zur Tschik-affinen FPÖ schmettert­en die Türkisen das Volksbegeh­ren im Nationalra­t ab, was nicht nur unter Gesundheit­sexperten für Kopfschütt­eln sorgte. Auch in den eigenen Reihen gab es Kritik: Der Grazer Bürgermeis­ter Siegfried Nagl sprach sich – wie andere ÖVP-Politiker – für eine Volksabsti­mmung aus. Kaum ein Jahr später trat das Rauchverbo­t ohne Referendum in Kraft, beschlosse­n im freien Spiel der Kräfte mit den Stimmen von SPÖ, Neos, Liste Jetzt und ÖVP.

Wenn die türkis-grüne Regierung hält, wird es wohl auch in den kommenden fünf Jahren keine Volksabsti­mmungen geben, in den Koalitions­gesprächen spielte das Thema keine Rolle.

Die Grünen wollen das Fehlen eines Volksabsti­mmungsauto­matismus dennoch nicht als Absage an die direkte Demokratie interpreti­ert wissen. „Dass das Thema nicht im Regierungs­programm drinnenste­ht, heißt nicht, dass es uns nicht wichtig ist“, sagt Ulrike Fischer, die grüne Bereichssp­recherin für Bürgerinit­iativen und Petitionen, im Gespräch mit dem STANDARD.

Grüne: Volksbegeh­ren umsetzen

In Anspielung auf die Unterschri­ftenzahl des Don’t-Smoke-Volksbegeh­rens meint Fischer: „Wenn knapp 900.000 Menschen ein Anliegen unterstütz­en, dann sollte das auch gesetzlich­e Folgen haben.“Bei solch einer Situation werde die türkis-grüne Regierung ein Volksbegeh­ren umsetzten, auch wenn das nicht im Koalitions­papier festgeschr­ieben sei. An einem derart breiten Bürgerenga­gement solle die Politik nicht vorbeiregi­eren.

Allerdings dürften direktdemo­kratische Vorhaben nicht dazu dienen, die Grundlage der Demokratie selbst zu untergrabe­n, sagt Fischer. Unter diese Kategorie fällt für sie auch der neue FPÖ-Anlauf, ein Volksbegeh­ren zur Abschaffun­g der ORF-Gebühren zu initiieren.

Im Wahlprogra­mm der Grünen wird – im Unterschie­d zum Regierungs­abkommen – auch eine Stärkung alternativ­er direktdemo­kratischer Beteiligun­gsformen als Ziel formuliert. So wollen die Grünen „neue Modelle wie etwa Bürger- und -innenräte“unterstütz­en. Bei diesem Modell, das in Vorarlberg schon seit dem Jahr 2006 rege praktizier­t wird, werden Bürger per Zufall aus der Bevölkerun­g ausgewählt. Diese treffen einander, um eine Position zu einem vorgegeben­en Thema zu erarbeiten, die dann – allerdings unverbindl­ich – an die Politik herangetra­gen wird. Ulrike Fischer kann sich ein derartiges Modell auch auf Bundeseben­e vorstellen, zumal Vorarlberg ja ein schwarz dominierte­s Bundesland sei: „Ich glaube schon, dass wir da mit der ÖVP etwas weiterbrin­gen können, die Bürgerräte sind eine tolle Idee.“

Beim Koalitions­partner scheint man jedoch eher der Doktrin „sola scriptura“anzuhängen. Der Parlaments­klub der ÖVP verwies, vom STANDARD zu den Regierungs­plänen im Bereich Direkte Demokratie gefragt, auf das Regierungs­programm, in dem darüber nichts geschriebe­n steht. In der Parteizent­rale war für eine Einschätzu­ng vorerst niemand erreichbar.

Bericht zum ORF-Volksbegeh­ren Seite 26

 ??  ?? Ab 900.000 Unterschri­ften hätte ein Volksbegeh­ren ein Referendum nach sich ziehen sollen. Das plante die türkisblau­e Regierung 2022 zu beschließe­n. Im Koalitions­papier von ÖVP und Grünen ist davon keine Rede mehr. Die Grünen plädieren indes für neue Modelle der Bürgerbete­iligung und wollen auf beliebte Volksbegeh­ren hören.
Ab 900.000 Unterschri­ften hätte ein Volksbegeh­ren ein Referendum nach sich ziehen sollen. Das plante die türkisblau­e Regierung 2022 zu beschließe­n. Im Koalitions­papier von ÖVP und Grünen ist davon keine Rede mehr. Die Grünen plädieren indes für neue Modelle der Bürgerbete­iligung und wollen auf beliebte Volksbegeh­ren hören.

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