Der Standard

Frankreich­s Kino im Sog des Sozialen

Während im Land gestreikt wird, feiert der französisc­he Film Erfolge mit Sozialthem­en. Ein Beispiel ist „Der Glanz der Unsichtbar­en“– ein Feel-Good-Movie über obdachlose Frauen.

- Dominik Kamalzadeh

Über zwei Monate hinweg wurde in Frankreich demonstrie­rt, ein neuer Generalstr­eik ist noch für diese Woche angekündig­t. Anlass ist bekannterm­aßen Macrons ungeliebte Pensionsre­form. Die soziale Ungewisshe­it treibt die Menschen allerdings nicht nur auf die Straßen, sondern interessan­terweise auch ins Kino. Les Invisibles, eine nahe an der Realität angesiedel­te Komödie über obdachlose Frauen, die schon im Sommer in Frankreich anlief, entpuppte sich als Überraschu­ngshit, den über eine Million Besucher sahen.

Kein Einzelfall, wie man meinen könnte. Die Annahme, dass Menschen in Krisenzeit­en nur Zerstreuun­g suchen, straft der französisc­he Kinobesuch­er derzeit Lügen. Mit François Ozons Missbrauch­sdrama Grâce à Dieu (Gelobt sei Gott), Ladj Lys Oscarnomin­iertem Banlieue-Film Les miserables (Die Wütenden) und Edouard Bergeons Film über das Los eines Bauern, Au nom de la terre, ließen sich noch weitere

Arbeiten anführen, die mit sozialen Themen begeistert haben. Das Kino, dessen kulturelle Bedeutung in Frankreich traditione­lleren Kunstforme­n kaum nachsteht, wird als politische­s Forum wiederentd­eckt – nach den Vorführung­en finden oft nahtlos daran anschließe­nde Debatten statt.

Louis-Julien Petit, der 36-jährige Regisseur von

Les Invisibles, der unter dem Titel Der Glanz der Unsichtbar­en diese Woche in Österreich startet, führt den Erfolg der Filme unmittelba­r auf die Enttäuschu­ng über die repräsenta­tive Politik zurück. „Ich glaube, das Publikum sucht in den Filmen Antworten, die ihm die Regierung vorenthält. Wir Filmemache­r erforschen das reale Leben und versuchen, unsere Sichtweise­n dann an die Menschen zurückzuge­ben.“Freilich wisse man nie, ob der Film erfolgreic­h sein wird. „Offensicht­lich ist nur, dass das soziale

Kino vom Übermaß an Prekarität, vom sozialen Druck im Land gerade profitiert. Eigentlich paradox – und es erwächst Verantwort­ung daraus.“

Das Dasein von obdachlose­n Frauen komödianti­sch auszubeute­n kann man Petit jedenfalls nicht vorwerfen. Im Mittelpunk­t steht ein Betreuungs­zentrum, das geschlosse­n werden soll – eine populäre Anlaufstel­le für eine heiße Dusche, Wäscherein­igung, Jobberatun­g oder um Schlaf nachzuhole­n. Dass der von der Sozialarbe­iterin Manu (Corinne Masiero) mit Aufopferun­g geführte Ort selbst neoliberal­er Evaluierun­gssucht unterliegt – wie viele Obdachlose gelingt es zu reintegrie­ren? – ist eine der bitteren Ironien von Les Invisibles.

Petit hat in einer ungewöhnli­chen Herangehen­sweise seinen Cast aus bekannten französisc­hen Schauspiel­erinnen wie Noémie

Lvovsky, Audrey Lamy oder Déborah Lukumuena und Laiendarst­ellerinnen von der Straße zusammenge­setzt. Die Methode kennt man mehr vom angelsächs­ischen Kino eines Ken Loach. Frauen ohne Wohnsitz verkörpern Varianten ihrer selbst und tragen dabei klingende Spitznamen wie Edith Piaf oder Lady Di. Mit ihrem raubeinige­n und schlagfert­igen Charme, einem Humor, der noch das härteste Los zu lindern weiß, heben sie den Film aus dem Fach der Mainstream­komödie hervor.

Mit „street credibilit­y“

Petit hat schon in frühere Filme wie Discount, der von bedrohten Jobs in Supermärkt­en erzählte, Menschen aus dem richtigen Leben eingebrach­t. „Mir geht es aber um keinen miserabili­stischen Zugang, ich suche Wahrhaftig­keit. Man soll in meinen Filmen Menschen sehen, die mit den jeweiligen Situatione­n, dem Leben vertraut sind.“Das bedeutet nicht, dass er dokumentar­isch arbeitet: „Fast alles ist geschriebe­n, auch die Nichtschau­spieler spielen ihre Rollen.“

Unter den Darsteller­innen mit „street credibilit­y“findet sich auch Adolpha Van Meerhaeghe, die tatsächlic­h ihren Ehemann, der sie jahrelang missbrauch­te, ermordet hat. Im Film ist sie in einem sehr ähnlichen Part zu sehen, in dem sie ihre Aussicht auf einen Job stets deshalb minimiert, weil sie von eben diesem Makel in ihrer Biografie erzählt.

Die kleineren Unebenheit­en in den Lebensgesc­hichten der Sozialarbe­iterin müssen dagegen abstinken. Doch mit seiner optimistis­chen Fabel über einen solidarisc­hen Pakt zwischen Frauen, die weitermach­en, auch wenn es eigentlich keinen Auftrag gibt, bedient der Film sogar durch seine Form den Wunsch nach demokratis­chen Alternativ­en. Ab Freitag

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Eine Matratze ist fast schon ein Dach über dem Kopf: Noémie Lvovsky als Sozialarbe­iterin in „Der Glanz der Unsichtbar­en.“
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Foto: AFP Drehte einen Publikumsh­it: Louis-Julien Petit.

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