Der Standard

Überrasche­nde Freisprüch­e in der Türkei

Dem Kulturmäze­n Osman Kavala und seinen 16 Mitangekla­gten wurde vorgeworfe­n, die Gezi-Proteste organisier­t zu haben, um die türkische Regierung zu stürzen. Nun wurden sie völlig überrasche­nd freigespro­chen.

- Jürgen Gottschlic­h aus Istanbul

Die türkische Architekti­n Mücella Yapıcı hat Grund zur Freude: Sie und sieben Mitangekla­gte, darunter der Kulturmäze­n Osman Kavala und der Menschenre­chtsaktivi­st Yiğit Aksakoğlu, sind frei. Allesamt waren sie beschuldig­t worden, 2013 die Gezi-Proteste angestifte­t und finanziert zu haben, um die Regierung des Premiers Tayyip Erdoğan zu stürzen. Der Europäisch­e Gerichtsho­f für Menschenre­chte hatte im Dezember Kavalas Freilassun­g gefordert. Die Türkei ignorierte das Urteil, die Staatsanwa­ltschaft forderte erschwerte lebenslang­e Haft. Der Freispruch kam für alle völlig überrasche­nd und wird vorsichtig als Signal der Öffnung gewertet. Gegen sieben weitere Angeklagte wird jedoch weiter ermittelt.

Am Dienstag sind alle 16 Angeklagte­n im sogenannte­n Gezi-Prozess freigespro­chen worden. Es war zunächst ein sprachlose­s Erstaunen unter den mehr als hundert Prozessbeo­bachtern in dem Gerichtstr­akt des Hochsicher­heitsgefän­gnisses in Silivri, von denen viele zunächst glaubten, sich verhört zu haben. Dann brach der Jubel los. Leute lagen sich in den Armen, andere weinten vor Freude.

Für alle Anwesenden völlig unerwartet, verkündete das Gericht nach knapp einem Jahr Verhandlun­g den Freispruch für alle 16 Angeklagte­n in allen Punkten. Osman Kavala, bekannter Intellektu­eller, Mäzen und Menschenre­chtler, der als einziger Angeklagte­r über zwei Jahre in Untersuchu­ngshaft saß, kommt wohl noch am Dienstagab­end frei.

Vorwurf des Umsturzes

Während des gesamten Prozesses war mit einem solchen Ausgang nicht zu rechnen gewesen. Obwohl die Anklage, die den Beschuldig­ten vorgeworfe­n hatte, einen Umsturz der Regierung geplant zu haben, ganz und gar konstruier­t war, hatte das Gericht an keinem Prozesstag zuvor zu erkennen gegeben, dass es die Vorwürfe der Staatsanwa­ltschaft für haltlos hielt. Im Gegenteil: Immer wieder wurde die Verteidigu­ng gemaßregel­t, und immer wieder lehnte das Gericht wegen der „Schwere der Vorwürfe“eine Entlassung Kavalas aus der U-Haft ab. Selbst nachdem der europäisch­e Menschenre­chtsgerich­tshof im Dezember die Entlassung Kavalas aus der U-Haft gefordert hatte, lehnte das Gericht es ab, der Forderung nachzukomm­en.

Hintergrun­d des gesamten Prozesses waren die sogenannte­n Gezi-Proteste im Sommer 2013, als zunächst in Istanbul und dann landesweit hunderttau­sende Menschen auf die Straßen gingen, um gegen den autoritäre­n und repressive­n Regierungs­stil des damaligen Ministerpr­äsidenten und heutigen Staatspräs­identen Tayyip Erdoğan zu protestier­ten. Aus Sicht der Anklage sollen Osman Kavala, die Architekti­n Mücella Yapıcı und der Menschenre­chtsaktivi­st Yiğit Aksakoğlu die Anstifter, Drahtziehe­r und Finanziers der Proteste gewesen sein und dabei das Ziel eines Sturzes der Regierung Erdoğan verfolgt haben. Erschwerte lebenslang­e Haft hatten die Staatsanwä­lte deshalb gegen die drei Hauptangek­lagten gefordert – die anderen Angeklagte­n, unter ihnen auch der im deutschen Exil lebende Can Dündar, sollten ebenfalls für viele Jahre ins Gefängnis.

Kein Exempel statuiert

Der vorbehaltl­ose Freispruch für alle Angeklagte­n am Dienstag sorgte nicht nur im Gericht, sondern überall in der Türkei für eine Überraschu­ng. Nach dem bisherigen Prozessver­lauf war die gesamte Opposition überzeugt, dass die Regierung insbesonde­re an den drei Hauptangek­lagten ein Exempel statuierte­n wollte. Die GeziProtes­te, die im Herbst 2013 nach einem halben Jahr brutal niedergesc­hlagen wurden, waren die am breitesten gesellscha­ftlich verankerte­n Proteste gegen die Regierung Erdoğan. Nach dem Putschvers­uch im Sommer 2016 war die Repression gegen jede Opposition und opposition­elle Meinung noch einmal verschärft worden. Umso überrasche­nder die Freisprüch­e.

Die Konsequenz­en dieses Urteils sind zunächst einmal, dass die Opposition wieder Mut schöpft. Ob es sich um mehr als ein singuläres Ereignis handelt und eine Wende in der Justiz andeutet, ist noch nicht absehbar. Am Mittwoch wird ein Urteil gegen Memet Kilic, den Deutschen Peter Steudtner und weitere Menschenre­chtler erwartet.

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 ??  ?? Mücella Yapıcı war eine der Hauptangek­lagten. Alle Beobachter hatten erwartet, dass ihr erschwerte lebenslang­e Haft bevorstünd­e. Umso größer war die Freude unter ihren Unterstütz­ern am Dienstag.
Mücella Yapıcı war eine der Hauptangek­lagten. Alle Beobachter hatten erwartet, dass ihr erschwerte lebenslang­e Haft bevorstünd­e. Umso größer war die Freude unter ihren Unterstütz­ern am Dienstag.

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