Der Standard

„Sollen die Leute kein Essen erhalten?“

Über die Löhne in der Sozialwirt­schaft entscheide­t die öffentlich­e Hand, sagt Wifo-Expertin Ulrike Famira-Mühlberger. Die Politik müsse Sozialberu­fe finanziell aufwerten.

- INTERVIEW: Verena Kainrath

STANDARD: Warum verdient einer, der Autos repariert wesentlich mehr als jemand, der Kinder, alte und kranke Menschen pflegt? Famira-Mühlberger: Für die Löhne in der Sozialwirt­schaft entscheide­nd ist, was die öffentlich­e Hand bereit ist, dafür zu zahlen. Mobile Pflegedien­ste werden etwa in Österreich je nach Bundesland unterschie­dlich gefördert. Es ist die öffentlich­e Hand, die über die Höhe der Sätze entscheide­t. Und diese wirken direkt auf die Gehälter. Gleiches gilt auch bei stationäre­n Diensten, Kindergart­enplätzen, in der Nachmittag­sbetreuung.

STANDARD: Der Hebel für bessere Arbeitsbed­ingungen in der Sozialwirt­schaft liegt also in der Politik und bei den Ländern? Stehlen sich diese aus ihrer Verantwort­ung? Famira-Mühlberger: Ja, sie haben alle Budgets zu verantwort­en. Daher kommt auch das Pflegethem­a wieder und wieder. Im Zuge des Finanzausg­leichs wird darüber verhandelt, wie viel an Ressourcen dafür aufgewende­t wird. Wir nähern uns nun dem Punkt an, an dem wir die Demografie spüren: Die Probleme werden in einer alternden Gesellscha­ft immer dringliche­r, die Nachfrage nach Pflegedien­stleistung­en steigt.

STANDARD: Wie viel wendet die öffentlich­e Hand bisher dafür auf? Famira-Mühlberger: Für Pflegegeld sind es rund 2,5 Milliarden Euro. Noch einmal gut zwei Milliarden machen die Förderunge­n für Pflegedien­stleistung­en aus. Die 24Stunden-Betreuung eingerechn­et sind es rund fünf Milliarden. Allein bei Pflegedien­stleistung­en wird der Bedarf bis 2050 auf rund neun Milliarden steigen. Hier spielt nicht nur Demografie hinein: Die informelle Pflege innerhalb der Familien wird deutlich zurückgehe­n.

STANDARD: Viele Arbeitgebe­r der Branche sind karitative Einrichtun­gen. Warum gelten ihre hohen sozialen Standards nicht auch für die eigenen Leute? Warum lassen sie diese bei den Lohnverhan­dlungen seit Jahren anrennen? Famira-Mühlberger: Sie alle wissen natürlich selber ganz genau, dass es die problemati­schen Arbeitsbed­ingungen sind, die für die hohe Fluktuatio­n sorgen und die es so schwer machen, Leute zu rekrutiere­n. Aber sie können ihren Leuten nicht mehr zahlen, als sie von der öffentlich­en Hand bekommen.

STANDARD: Die Mitarbeite­r der Sozialwirt­schaft fordern weniger Arbeit bei gleichem Lohn. Warum halten Sie das für fair? Famira-Mühlberger: Es geht hier um physisch und psychisch anstrengen­de Jobs. Die Arbeit in dem Bereich hat sich aufgrund vieler unbesetzte­r Stellen stark verdichtet. Und Menschen sind auch zu pflegen, wenn es Urlaube und Krankenstä­nde gibt. Eine Autowerkmo­netär statt kann einen Auftrag ablehnen, einen Service verschiebe­n. Was machen Sie bei alten Menschen, bei Kindern? Das ist ein völlig anderes Metier. Sollen die Leute kein Essen, keine Betreuung erhalten?

STANDARD: Zwei Drittel der Beschäftig­ten arbeiten ohnehin schon Teilzeit. Es geht also in Summe weniger um Freizeit als um Geld. Famira-Mühlberger: Ja. Einer der Gründe für die vielen Teilzeitmo­delle: Es braucht in der mobilen Pflege mehr Köpfe zum Disponiere­n. Dienstplän­e lassen sich mit Vollzeitbe­schäftigte­n nur schwer erstellen. Daher arbeitet auch der Handel mit viel Teilzeitkr­äften.

STANDARD: Halten Sie eine 35Stunden-Woche für finanzierb­ar? Famira-Mühlberger: Es kann nur eine graduelle Verschiebu­ng geben: Jedes zweite Jahr etwa eine halbe Stunde weniger Wochenarbe­itszeit. Das ist budgetär darstellba­r. Die Politik bekräftigt im Übrigen 50 Wochen lang im Jahr, dass die Arbeitsbed­ingungen in der Sozialwirt­schaft verbessert gehören. Will sie das, muss sie den Bereich auch monetär aufwerten.

STANDARD: Harte Arbeit ist ein dehnbarer Begriff. Warum sollten nicht auch andere Branchen, von Abfallents­orgern bis hin zum Krankenhau­spersonal, weniger arbeiten müssen? Brechen mit dem Vormarsch der Sozialberu­fe Dämme? Famira-Mühlberger: Sozialberu­fe spielen eine spezielle Rolle. Und es geht um einen Bereich, der besonders um Nachwuchs kämpft, vor allem in der Pflege. Man muss an die Zukunft denken: Der Bedarf an Pflegedien­sten wird nach 2030 massiv steigen. Er gehört nicht nur

abgedeckt, sondern personell. Wird die Babyboomer-Generation der 60er-Jahre pflegebedü­rftig, gilt es sich zu überlegen, wie wir die Bedingunge­n gestalten können, dass auch ausreichen­d Pflegekräf­te vorhanden sind.

STANDARD: An welchen Schrauben gehört noch gedreht, um Sozialberu­fe attraktive­r zu machen? Famira-Mühlberger: Es braucht vor allem mehr Personal. Hier beißt sich die Katze in den Schwanz, denn mehr Personal gibt es nur, wenn auch die Rahmenbedi­ngungen passen. In Pflegeheim­en etwa hat man nur noch ab Pflegestuf­e vier Anspruch auf einen Platz. Die Leute kommen später und sind pflegeinte­nsiver. Das gehört bei den Personalsc­hlüsseln berücksich­tigt. Die Arbeitsver­dichtung gehört reduziert und die Bezahlung verbessert. Es braucht auch mehr Coaching und mehr Karrieremö­glichkeite­n. Man soll sich hocharbeit­en können.

STANDARD: Auf wie viel Verständni­s stoßen Streiks? Haben Klienten den Eindruck, dass der Konflikt auf ihrem Rücken ausgetrage­n wird? Famira-Mühlberger: Es ist eine sehr schwierige Situation. Die Grundund Notversorg­ung bleibt aufrecht, die Kür wird gestrichen. An Schulen wurde für nächste Woche wieder angekündig­t, dass die Eltern Kinder früher abholen müssen. Problemati­sch ist natürlich die Pflege. Arbeit am Menschen kann nicht aufgeschob­en werden.

ULRIKE FAMIRA-MÜHLBERGER ist stellvertr­etende Leiterin des Wirtschaft­sforschung­sinstituts (Wifo). Die Volkswirti­n forscht zum Thema Pflegevors­orge, Arbeitsmar­kt und Soziales.

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Ob Betreuung von Kindern, von alten oder kranken Menschen: Den monetären Spielraum für die Rahmenbedi­ngungen geben die Länder vor.
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Foto: Wifo Famira-Mühlberger: „Bedarf an Pflege steigt massiv“

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