Österreich bietet Griechenland Hilfe bei Grenzschutz an
EU-Agentur Frontex schickt mehr Beamte Athen geht hart gegen Flüchtlinge vor
Brüssel/Wien/Athen/Ankara – Die EU-Staaten haben am Sonntag ihre Bemühungen verstärkt, eine Massenbewegung von Flüchtlingen aus der Türkei abzuwenden. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex schickt auf Wunsch von Griechenland zusätzliche Beamte ins Land. Der österreichische Innenminister Karl Nehammer bot Athen ebenfalls die Entsendung weiterer Polizisten zur Unterstützung vor Ort an. Gleichzeitig verstärke man den Schutz der eigenen Grenze, teilte der ÖVP-Politiker in einer Aussendung mit. EUMigrationskommissar Margaritis Schinas forderte eine rasche Sondersitzung der EU-Innenminister.
Tausende Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und anderen Staaten haben sich am Wochenende an der türkischgriechischen Grenze versammelt, nachdem die Türkei den Weg in die EU freigegeben hatte. Athen warf der türkischen Regierung vor, mit Falschmeldungen die Flüchtlingsbewegung anzuheizen. Meldungen, wonach 75.000 Migranten die Grenzen bereits überschritten hätten, wies die griechische Regierung zurück. Die Uno sprach von 13.000 Menschen am Grenzfluss Evros. Sicherheitskräfte gingen mit Wasserwerfern und Tränengas gegen Migranten vor, die mit Steinen warfen.
Bei Idlib meldete die Türkei den Beginn einer Militäroffensive gegen die syrische Armee. (red)
Es klang wie eine Erfolgsmeldung, als der türkische Innenminister Süleyman Soylu Sonntag per Twitter bekanntgab, es hätten sich seit Freitagfrüh bereits 78.358 Flüchtlinge auf den Weg zur Grenze nach Griechenland und Bulgarien gemacht. Kurz danach legte der Kommunikationsdirektor des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, Fahrettin Altun, noch einmal nach und verkündete bereits Zahlen von gut 80.000 Flüchtlingen, die sich auf den Weg gemacht haben sollen. Dass diese Statements sich in der Türkei so anhören, als seien die Flüchtlinge bereits in Griechenland oder Bulgarien angekommen, ist beabsichtigt, auch wenn es mit der Realität nichts zu tun hat. Hauptsache, das türkische Publikum glaubt, dass jetzt endlich wieder Flüchtlinge das Land verlassen, anstatt dass immer nur noch mehr dazukommen.
Am Samstag hatte Erdoğan öffentlich bestätigt, was bisher nur als Gerücht herumgeisterte. „Wir werden niemanden mehr daran hindern, die Türkei in Richtung EU zu verlassen“, sagte er. Der EUTürkei-Flüchtlingspakt sei hinfällig, weil die EU sich nicht an ihre Zusagen gehalten habe. Um den Worten Nachdruck zu verleihen, hatten türkische Behörden am Freitag dem Flüchtlingstreck in Richtung griechische Grenze noch nachgeholfen – auf denkbar zynische Weise. In Zeytinburnu, einem Stadtteil Istanbuls, in dem besonders viele Flüchtlinge leben, tauchten plötzlich weiße Busse auf, von denen es hieß, sie würden Flüchtlinge an die Grenze bringen. Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile, einige Syrer und Afghanen ließen buchstäblich alles stehen und liegen und prügelten sich fast, um einen Platz zu bekommen – im sicheren Glaube, ihre Ausreise sei genehmigt.
Die Offensive im Hintergrund
Umso größer dann die Enttäuschung, dass sie an der griechischen Grenze und am Grenzfluss Evros brutal gestoppt wurden. Dort standen griechisches Militär und Bereitschaftspolizei und schossen mit Tränengas auf die Flüchtlinge. Trotzdem brechen seit Freitag immer mehr frustrierte Syrer, Afghanen, Iraker und Iraner von Istanbul und anderen Städten in der Türkei zur Grenze auf, weil sie dennoch einen Funken Hoffnung haben, irgendwie ins gelobte Land zu kommen. Zumindest über die Ägäis, von der türkischen Küste nach Lesbos, Chios und Samos, ist es offenbar am Wochenende auch einigen Hundert Migranten gelungen, die EU-Außengrenze zu überwinden (siehe unten).
Erdoğans Handeln hat unmittelbar mit dem Geschehen in Syrien zu tun. In der an die Türkei angrenzenden Provinz Idlib warten nach UN-Angaben fast eine Million verzweifelter Menschen unter katastrophalen Bedingungen darauf, Richtung Türkei zu entkommen. Obwohl Erdoğan die Rebellen, Islamisten und Jihadisten in Idlib gegen die Truppen von Diktator Bashar al-Assad unterstützt und erst am Sonntag eine neue Militäroffensive gegen Assad in Gang setzte, will er auf keinen Fall diese Flüchtlinge über die mit Mauern und Stacheldraht gesicherte Grenze in die Türkei lassen. Denn im Land ist der Unmut über die fast vier Millionen Flüchtlinge, besonders angesichts der Wirtschaftskrise, groß. Niemand in der Türkei will noch mehr, deshalb setzt Erdoğan auf die Bilder an der griechischen Grenze, die zeigen sollen, dass endlich eine nennenswerte Zahl von Flüchtlingen die Türkei wieder verlässt.
Pogromartige Szenen
Insbesondere in den Großstädten entlang der türkisch-syrischen Grenze, wo teils genauso viele Flüchtlinge wie Türken leben, ist die Stimmung explosiv. Dort kam es Samstagnacht zu massiven Ausschreitungen gegen syrische Geschäfte. In den sozialen Medien verbreiteten sich Bilder, auf denen geradezu pogromartige Szenen zu sehen waren. Diese Bilder werden in den offiziellen Medien nicht gezeigt, doch Erdoğan weiß, dass er eine neue Flüchtlingswelle aus Syrien politisch nur schwer überleben könnte.
Einen klaren Bruch des 2016 vereinbarten EU-Türkei-Aktionsplans sieht man jedenfalls auch in Brüssel. Ankara wurden ja sechs Milliarden Euro Hilfen für syrische Flüchtlinge in der Türkei zugesagt. Die Regierung verpflichtet sich damals ihrerseits, alle irregulär nach Europa gelangten Migranten zurückzunehmen. Gleichzeitig ist die EU bereit, für jeden rückgeführten Migranten einen anerkannten syrischen Flüchtling in einem EU-Land aufzunehmen. Das scheint im Chaos nun obsolet. Noch diese Woche dürfte es ein EU-Sondertreffen der Innen- und Justizminister in Brüssel geben.