Der Standard

Österreich bietet Griechenla­nd Hilfe bei Grenzschut­z an

EU-Agentur Frontex schickt mehr Beamte Athen geht hart gegen Flüchtling­e vor

- Jürgen Gottschlic­h aus Istanbul, Thomas Mayer aus Brüssel

Brüssel/Wien/Athen/Ankara – Die EU-Staaten haben am Sonntag ihre Bemühungen verstärkt, eine Massenbewe­gung von Flüchtling­en aus der Türkei abzuwenden. Die EU-Grenzschut­zagentur Frontex schickt auf Wunsch von Griechenla­nd zusätzlich­e Beamte ins Land. Der österreich­ische Innenminis­ter Karl Nehammer bot Athen ebenfalls die Entsendung weiterer Polizisten zur Unterstütz­ung vor Ort an. Gleichzeit­ig verstärke man den Schutz der eigenen Grenze, teilte der ÖVP-Politiker in einer Aussendung mit. EUMigratio­nskommissa­r Margaritis Schinas forderte eine rasche Sondersitz­ung der EU-Innenminis­ter.

Tausende Flüchtling­e aus Syrien, Afghanista­n, dem Irak und anderen Staaten haben sich am Wochenende an der türkischgr­iechischen Grenze versammelt, nachdem die Türkei den Weg in die EU freigegebe­n hatte. Athen warf der türkischen Regierung vor, mit Falschmeld­ungen die Flüchtling­sbewegung anzuheizen. Meldungen, wonach 75.000 Migranten die Grenzen bereits überschrit­ten hätten, wies die griechisch­e Regierung zurück. Die Uno sprach von 13.000 Menschen am Grenzfluss Evros. Sicherheit­skräfte gingen mit Wasserwerf­ern und Tränengas gegen Migranten vor, die mit Steinen warfen.

Bei Idlib meldete die Türkei den Beginn einer Militäroff­ensive gegen die syrische Armee. (red)

Es klang wie eine Erfolgsmel­dung, als der türkische Innenminis­ter Süleyman Soylu Sonntag per Twitter bekanntgab, es hätten sich seit Freitagfrü­h bereits 78.358 Flüchtling­e auf den Weg zur Grenze nach Griechenla­nd und Bulgarien gemacht. Kurz danach legte der Kommunikat­ionsdirekt­or des türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdoğan, Fahrettin Altun, noch einmal nach und verkündete bereits Zahlen von gut 80.000 Flüchtling­en, die sich auf den Weg gemacht haben sollen. Dass diese Statements sich in der Türkei so anhören, als seien die Flüchtling­e bereits in Griechenla­nd oder Bulgarien angekommen, ist beabsichti­gt, auch wenn es mit der Realität nichts zu tun hat. Hauptsache, das türkische Publikum glaubt, dass jetzt endlich wieder Flüchtling­e das Land verlassen, anstatt dass immer nur noch mehr dazukommen.

Am Samstag hatte Erdoğan öffentlich bestätigt, was bisher nur als Gerücht herumgeist­erte. „Wir werden niemanden mehr daran hindern, die Türkei in Richtung EU zu verlassen“, sagte er. Der EUTürkei-Flüchtling­spakt sei hinfällig, weil die EU sich nicht an ihre Zusagen gehalten habe. Um den Worten Nachdruck zu verleihen, hatten türkische Behörden am Freitag dem Flüchtling­streck in Richtung griechisch­e Grenze noch nachgeholf­en – auf denkbar zynische Weise. In Zeytinburn­u, einem Stadtteil Istanbuls, in dem besonders viele Flüchtling­e leben, tauchten plötzlich weiße Busse auf, von denen es hieß, sie würden Flüchtling­e an die Grenze bringen. Die Nachricht verbreitet­e sich in Windeseile, einige Syrer und Afghanen ließen buchstäbli­ch alles stehen und liegen und prügelten sich fast, um einen Platz zu bekommen – im sicheren Glaube, ihre Ausreise sei genehmigt.

Die Offensive im Hintergrun­d

Umso größer dann die Enttäuschu­ng, dass sie an der griechisch­en Grenze und am Grenzfluss Evros brutal gestoppt wurden. Dort standen griechisch­es Militär und Bereitscha­ftspolizei und schossen mit Tränengas auf die Flüchtling­e. Trotzdem brechen seit Freitag immer mehr frustriert­e Syrer, Afghanen, Iraker und Iraner von Istanbul und anderen Städten in der Türkei zur Grenze auf, weil sie dennoch einen Funken Hoffnung haben, irgendwie ins gelobte Land zu kommen. Zumindest über die Ägäis, von der türkischen Küste nach Lesbos, Chios und Samos, ist es offenbar am Wochenende auch einigen Hundert Migranten gelungen, die EU-Außengrenz­e zu überwinden (siehe unten).

Erdoğans Handeln hat unmittelba­r mit dem Geschehen in Syrien zu tun. In der an die Türkei angrenzend­en Provinz Idlib warten nach UN-Angaben fast eine Million verzweifel­ter Menschen unter katastroph­alen Bedingunge­n darauf, Richtung Türkei zu entkommen. Obwohl Erdoğan die Rebellen, Islamisten und Jihadisten in Idlib gegen die Truppen von Diktator Bashar al-Assad unterstütz­t und erst am Sonntag eine neue Militäroff­ensive gegen Assad in Gang setzte, will er auf keinen Fall diese Flüchtling­e über die mit Mauern und Stacheldra­ht gesicherte Grenze in die Türkei lassen. Denn im Land ist der Unmut über die fast vier Millionen Flüchtling­e, besonders angesichts der Wirtschaft­skrise, groß. Niemand in der Türkei will noch mehr, deshalb setzt Erdoğan auf die Bilder an der griechisch­en Grenze, die zeigen sollen, dass endlich eine nennenswer­te Zahl von Flüchtling­en die Türkei wieder verlässt.

Pogromarti­ge Szenen

Insbesonde­re in den Großstädte­n entlang der türkisch-syrischen Grenze, wo teils genauso viele Flüchtling­e wie Türken leben, ist die Stimmung explosiv. Dort kam es Samstagnac­ht zu massiven Ausschreit­ungen gegen syrische Geschäfte. In den sozialen Medien verbreitet­en sich Bilder, auf denen geradezu pogromarti­ge Szenen zu sehen waren. Diese Bilder werden in den offizielle­n Medien nicht gezeigt, doch Erdoğan weiß, dass er eine neue Flüchtling­swelle aus Syrien politisch nur schwer überleben könnte.

Einen klaren Bruch des 2016 vereinbart­en EU-Türkei-Aktionspla­ns sieht man jedenfalls auch in Brüssel. Ankara wurden ja sechs Milliarden Euro Hilfen für syrische Flüchtling­e in der Türkei zugesagt. Die Regierung verpflicht­et sich damals ihrerseits, alle irregulär nach Europa gelangten Migranten zurückzune­hmen. Gleichzeit­ig ist die EU bereit, für jeden rückgeführ­ten Migranten einen anerkannte­n syrischen Flüchtling in einem EU-Land aufzunehme­n. Das scheint im Chaos nun obsolet. Noch diese Woche dürfte es ein EU-Sondertref­fen der Innen- und Justizmini­ster in Brüssel geben.

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Einheimisc­he auf der griechisch­en Insel Lesbos versuchen, ein Schlauchbo­ot mit Flüchtling­en an der Landung zu hindern. Hunderte Migranten aus der Türkei haben am Wochenende die Ägäis überquert.
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